“Gjemt [er ikke] glemt”

Erinnern und Vergessen in H.C. Andersens Dingmärchen

Dass Erinnern und Vergessen im Werk H.C. Andersens eine wichtige Rolle spielen, mag auf den ersten Blick erstaunen, ist doch der Däne international gesehen vor allem als Verfasser von Märchen bekannt, in denen einer “kindlichen Unschuld” und einer “Wahrheit des Herzens” das Wort geredet und gegen die “Verstandeskälte der Vernunft” angeschrieben wird. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass solche Themen eingeschrieben in einen Diskurs über das Vergangene sind, das auf seine Relevanz in Bezug auf die Gegenwart befragt wird. Andersens reflektierter Umgang mit der Vergangenheit ist als epochentypisch anzusehen, und die Forschung hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Besinnung auf die Tradition im 19. Jahrhundert als Resultat eines deutlich empfundenen Bruchs mit eben dieser Tradition begriffen werden kann.[1] Andersens Diskontinuitätserfahrungen zeigen sich in der Art und Weise, wie er auf die Bedrohungen “selbstverständlicher Gedächtnisgemeinschaften” reagiert, die nach Pierre Nora in erster Linie bäuerliche Gesellschaftsstrukturen auszeichnen.

Die Bedrohung des “Gedächtnismilieus” (P. Nora) durch die beginnende industrielle Massenproduktion von Gütern ist ein Thema, das von Andersen oft gestaltet wird. Liest man seine Dingmärchen[2] auf dieses Thema hin, so scheint die beginnende industrielle Massenproduktion von Gütern dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass der einzelne Gegenstand in seiner Einmaligkeit entwertet und eine affektive Beziehung zu demselben verunmöglicht wird. Der Gegenstand, nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner Funktionalität betrachtet, wird emotional wertlos für seinen Besitzer. Es entsteht eine Abfallgesellschaft, in der die Dinge weggeschmissen werden, wenn sie kaputt oder bloß in die Jahre gekommen sind. In Andersens Märchen hat dieser Grundzug einer modernen Gütergesellschaft fatale Konsequenzen für den Umgang derselben mit Gedächtnis und Erinnerung, und zwar deshalb, weil in seinen Texten beide Phänomene in erster Linie materiell fundiert werden: Es ist die Materie, die Erinnerungen speichert und an der Erinnerungsspuren ablesbar sind. Werden materielle Dinge zerstört, wird der Mensch der Fähigkeit beraubt, die Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit begreifen zu können. Mit der Zerstörung der Dinge, die als Zeugen einer vergangenen Zeit fungieren, wird es ihm verunmöglicht, das Gedächtnis der Vergangenheit hinüberzuretten in die Gegenwart. Gerade in seinen Dingmärchen wird dieses Problem wiederholt behandelt und gegen einen drohenden Bruch im Zeitkontinuum angeschrieben, der bewirkt, dass die Gegenwart nicht mehr als etwas organisch Gewachsenes aus der Vergangenheit begriffen werden kann. Die Gegenstände beginnen sich angesichts der drohenden Zerstörung Gedanken über ihr vergangenes Leben zu machen, sie beginnen sich zu erinnern.

Affektives Erinnern

Im Märchen Den gamle Gadeløgte wird die Geschichte einer Straßenlaterne erzählt, die eingeschmolzen werden soll. Bei diesem Gedanken quält sie vor allem “at den ikke vidste, om den da beholdt Erindringen om, at den havde været Gadeløgte”. (SV1, S. 387) Im Märchen Theepotten wird die Transformation einer Teekanne in eine Scherbe geschildert, auch dieser Text weist der Erinnerung eine wichtige Funktion zu, wenn es am Schluss heißt: “… og jeg blev kastet ud i Gaarden, ligger der som et gammelt Skaar, – men jeg har Erindringen, den kan jeg ikke miste.” (SV3, S. 49) Der Text Den stumme Bog schließt mit den Worten “Gjemt – glemt!” (S. 45), und ein anderer Text straft gerade diese Aussage Lügen, wenn in ihm drei Beispiele erzählt werden, die die Titelgebung “Gjemt men ikke glemt” illustrieren sollen.

Das sind nur drei Beispiele aus einer Fülle anderer, die zeigen, dass bei H.C. Andersen der Themenblock Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen häufig thematisiert wird, und zwar nicht nur in seinen Märchen, sondern auch in den Reisebüchern, wobei in diesen das Thema oft von einem allgemein gehaltenen Nachdenken über die Vergänglichkeit überlagert wird. Als Erklärungsursache für das häufige Thematisieren der Vergänglichkeit in Andersens Schwedenbuch nennen Heike Depenbrock und Heinrich Detering das aufkommende industrielle Zeitalter sowie die damit im Zusammenhang stehende beschleunigte Zeiterfahrung, die Andersen deutlich empfand.[3] So liest man etwa in den Skyggebilleder af en Reise til Harzen gleich zu Beginn: “Vi leve i en Tid, hvor Verdensbegivenheder følge Slag i Slag paa hinanden, hvor der i eet Aar udvikler sig mere, end før i hele Decennier; […].”[4] Dies Empfinden einer beschleunigten Zeiterfahrung, das Andersen mit vielen anderen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts teilt, wirft fast zwangsläufig die Frage auf, was angesichts einer sich rasant verändernden Welt im kulturellen Gedächtnis überleben kann. Industrialisierung und die beginnende Massenproduktion von Gütern bewirken eine radikale Veränderung der Landschaft und der Städte, deren auf das Mittelalter zurückgehende Mauern und Tore in dieser Zeit den Stadterweiterungen weichen müssen. Vor diesem Hintergrund müssen auch Andersens “tingseventyr” gelesen werden, in denen ein bestimmter Gegenstand als Protagonist des Textes fungiert. Diese Märchen folgen zumeist einem bestimmten Muster: Ein in die Jahre gekommener und deshalb beschädigter Gegenstand läuft wegen technischer Innovationen Gefahr, aus dem Verkehr gezogen und zerstört zu werden. In der Stunde der Gefahr erinnert sich dieser noch einmal an die gute alte Zeit.

Der Gegenstand fürchtet sich dabei vor allem vor dem Verlust der Erinnerungen. Die alte Straßenlaterne im gleichnamigen Märchen macht wiederholt darauf aufmerksam, sie fürchte nicht so sehr das Umschmelzen als vielmehr den Verlust der Erinnerungen, wie das Zitat zu Beginn dieser Ausführungen deutlich macht. Dabei wird die affektive Qualität der Erinnerungen stark betont. Die Laterne erinnert sich deshalb so gut, weil sie die Fähigkeit zum Mitgefühl bewahrt hat, ihr Erinnern wird als schon fast körperlicher Vorgang beschrieben. Anläßlich eines Begräbnisses einer jungen Frau liest man: “… hele Fortouget var fuldt med Mennesker, de fulgte alle med Ligtoget, men da Faklerne var af Syne og jeg saae mig omkring, stod her endnu En ved Pælen og græd, jeg glemmer aldrig de to Sorgens Øine, der saae ind i mig!” (SV1, S. 389) Interessant an diesem Zitat ist, dass die Erinnerungen nicht durch eine sprachliche Äußerung verfestigt oder stabilisiert werden, sondern durch den Affekt, hier durch “trauervolle Augen”. Zur affektiven Art des Erinnerns gehört auch die Umgebung, die in den Erinnerungsprozess hineingezogen wird und von ihm nicht ablösbar ist. So gelten die Sorgen der Laterne auch der Tatsache, dass sie sich von dem Wächter und seiner Frau trennen muss, die sie ganz als ihre Anverwandten betrachtet. Was sie verbindet, ist die gemeinsame Geschichte mit demselben Erinnerungsmilieu.

Es fällt nämlich auf, dass die Laterne in unserem Märchen ein geradezu affektives Verhältnis zu ihrem Laternenputzer hat und umgekehrt. Dieser hat sich die Laterne als Geschenk zu seiner Pensionierung gewünscht, ein Wunsch, für den er von seinen Kollegen ausgelacht wird. Es bleibe dahingestellt, inwieweit hier Andersen bereits hellsichtig auf die aufkommende industrielle Massenproduktion von Gütern reagiert, die eine affektive Bindung an den Gegenstand verhindert, welche bei manueller Produktion eher noch möglich war. Plädiert wird in diesem Märchen für einen affektiven Umgang mit den Dingen, bei dem die Dinge stets mehr sind als bloße Gebrauchsgüter. Was die Laterne darüber hinaus beängstigt, ist nicht nur der Verlust der Erinnerungen, sondern auch der Verlust einer Kontinuität, wie sie beispielsweise in einer genealogischen Abfolge zum Ausdruck kommt: “Saadan gik der mange Tanker gjennem den gamle Gadeløgte, som iaften lyste for sidste Gang. Skildvagten, som løses af, veed dog sin Efterfølger, og kan sige ham et Par Ord, men Løgten vidste ikke sin og den kunde dog givet ham et og andet Vink, […].” (S. 389) Deutlich kommt in solchen Formulierungen die Furcht der Straßenlaterne vor einem Bruch zum Ausdruck, der sich darin äußert, dass die neue Zeit mit ihren Errungenschaften offenbar nicht mehr an die alte Zeit sich organisch anschließt, sondern etwas radikal Neues bringt, das mit dem Vergangenen in keiner einsichtigen Verbindung mehr steht. Das heißt, die alte Zeit wird nicht mehr als organischer Teil der Gegenwart gesehen, sondern droht, unterzugehen und damit unverständlich zu werden für kommende Generationen. In Den gamle Gadeløgte wird keine Alternative zum drohenden Vergessen formuliert, wenn am Schluss die Laterne beschließt, sich wenigstens so lange nicht umschmelzen zu lassen, solange der alte Wächter und seine Frau, die die Laterne geschenkt erhielten, am Leben sind.

Erinnerung und Identität

Eine genauere Lektüre des Märchens zeigt jedoch, dass die Lampe im Grunde nicht die neue Zeit fürchtet, sondern der radikale Neubeginn wird nur deshalb in Frage gestellt, weil er verbunden ist mit einer kompletten Vernichtung des Alten und der damit verbundenen Identität, für die die Form der Laterne steht. Die Laterne überlegt sich denn auch, ob es möglich sei, die Erinnerungen zu bewahren bei veränderter Gestalt. Ähnlich wie Kierkegaard scheint auch Andersen Erinnerung und Identität als aufs engste zusammengehörend zu denken. Erinnerung in den Stadier paa Livets Vei ist ja gerade, wie Dietmar Götsch zeigte, vom Gesichtspunkt subjektiver Identität her privilegiert gegenüber dem Gedächtnis.[5] Die Konsequenz allerdings, die aus der identitätsstiftenden Funktion der Erinnerung bei Kierkegaard gezogen wird, nämlich das Leben von vornherein auf Erinnerung hin anzulegen, wird von Andersen nicht nachvollzogen. Bei ihm wird stattdessen die Gefahr des Zusammenbruchs der alten Ordnung betont und dagegen wird angeschrieben. Denn nicht einem Bruch, sondern einem Zeitkontinuum, in das man sich selber einreihen kann, wird der Vorzug gegeben. Hat die Erinnerung bei Kierkegaard die Funktion, etwas Neues entstehen zu lassen, so hat sie bei Andersen eher die Funktion des Bindeglieds zwischen dem Alten und dem Neuen. Und da die Memoria in seiner Konzeption aufs engste mit den Dingen, die als materieller Ausdruck und Tresor derselben fungieren, zusammengehört, wird Mal für Mal betont, wie wichtig es sei, dass die Gegenstände unversehrt blieben. In dem Maße, wie die Gegenstände einer vergangenen Zeit vernichtet oder umfunktionalisiert werden, wird auch diese selbst unverständlich, weil die Dinge als materielle Träger des Gedächtnisses dieser Epoche fungieren und deren Gedächtnis an den Dingen abgelesen werden kann.

Man muss sich jedoch hüten, aus diesem Befund eine fortschrittsfeindliche Haltung heraus lesen zu wollen, wird doch der Verlust eines angeblich poetischen Zeitalters nicht beklagt und auch eine Furcht vor den technischen Umwälzungen ist nicht auszumachen, im Gegenteil. Es ist bekannt, dass Andersen das anbrechende Eisenbahn-Zeitalter enthusiastisch begrüßte. So schreibt er in seinem Reisebuch über Spanien einleitend:

Da i Europa Jernbanerne bleve aabnede, horte man en Skrigen, at nu var den gamle, skjønne Maade at reise paa forbi, Reise-Poesien forsvunden, Trylleriet tabt; just da begyndte Trylleriet. Vi flyve nu med Dampens Vinger, og foran os og rundt om os folger Bilied paa Billed i rig Afvexling; der kastes som Bouquet til os, nu en heel Skov, nu en By, Bjerge og Dale.[6]

Andersen setzt der alten “Reisepoesie” eine Poesie entgegen, deren Reiz gerade in der beschleunigten Zeiterfahrung steckt, liegt doch ihm zufolge die neue Art von Zauberei in der Schnelligkeit, mit der ständig sich verändernde Sinneseindrücke während einer Eisenbahnfahrt an den Reisenden vorbeihuschen. Es geht ihm demnach nicht um eine angeblich glücklichere, poetischere Vergangenheit, die bewahrt werden soll, sondern um die produktive Aneignung derselben für die Gegenwart im Bewusstsein einer drohenden Verlusterfahrung. Diese Verlusterfahrung steht auch hinter Kierkegaards Überlegungen zu Gedächtnis und Erinnerung. Sie wird zum Signum einer Epoche, ist in hohem Maße zeittypisch und rührt von dem Gefühl eines zunehmenden Zweckrationalismus her, der nach Auffassung der Romantiker mit dem Schönen in Konflikt gerät. “Das Schöne”, um eine Formulierung von Hans Robert Jauß zu übernehmen, “das die romantische Subjektivität angesichts der eingetretenen Versachlichung und Verdinglichung zu bewahren sucht, ist ein Schönes im Status des Vergangenseins.”[7] Das ist bei Andersen deutlich zu sehen, etwa im Märchen Den gamle Liigsteen, in dem das Problem thematisiert wird, wie das vergangene Schöne in die Gegenwart und Zukunft hinüber gerettet werden kann.

Auflösung selbstverständlicher Gedächtnisgemeinschäften

In seinen Märchen und Erzählungen vertritt Andersen eine Gedächtniskonzeption, die vielleicht am besten mit Überlegungen des französischen Historikers Pierre Nora zum Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis erklärt werden kann. In der Nachfolge von Maurice Halbwachs bringt Nora die Geschichte als im 19. Jahrhundert neu entstandene wissenschaftliche Disziplin in einen radikalen Gegensatz zu dem, was er als Gedächtnis bezeichnet. Nora zufolge spalten wir in dem Moment, in dem wir in ein reflektierendes Verhältnis zur Vergangenheit treten, das Gedächtnis von uns ab und es wird Geschichte.

Hausten wir noch in unserem Gedächtnis, brauchten wir ihm keine Orte zu widmen. Es gäbe keine Orte, weil es kein von der Geschichte herausgerissenes Gedächtnis gäbe. Jede Geste bis zur alltäglichsten würde wie die religiöse Wiederholung dessen erlebt, was immer schon getan wurde, in einer körperlichen Identifizierung von Tat und Sinn. Sobald es eine Spur, Distanz, Vermittlung gibt, befindet man sich nicht mehr im wahren Gedächtnis, sondern in der Geschichte.[8]

Das Gedächtnis selbstverständlicher Gemeinschaften – Nora führt als Beispiel die bäuerliche Welt an – ist affektiv und magisch, im Gegensatz zu demjenigen der Geschichte, das archivarisch ist und dessen Voraussetzung ein deutlich empfundener Bruch zwischen der jeweiligen Gegenwart und der Vergangenheit ist. Nora zufolge gehört dem “vollkommenen Gedächtnis” die Vergangenheit der Gegenwart, und er begründet die Existenz von Gedächtnisorten mit dem Fehlen selbstverständlicher Gedächtnisgemeinschaften. “Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.”[9] Nora macht für diesen Prozess die Beschleunigung der Geschichte verantwortlich, die er in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Gedächtnis sieht. Das Modell eines “echten, sozialen und unberührten Gedächtnisses]”[10] seien die so genannten primitiven oder archaischen Gesellschaften, in denen das Gedächtnis auf selbstverständliche Art und Weise eingebunden in die Gesellschaft und sich nicht bewusst sei. Diesem Modell stehe unser Gedächtnis gegenüber, das “bloß Geschichte” sei und zum selbstverständlichen Gedächtnis, wie es eine bäuerliche Gesellschaft auszeichne, in einem radikalen Gegensatz stünde. Dabei wird die Geschichte als “problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist” verstanden, das Gedächtnis hingegen als ein “stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung”. Das Gedächtnis sei “affektiv und magisch”, es behalte “nur die Einzelheiten, welche es bestärken”. Die Geschichte hingegen fordere “Analyse und kritische Argumentation”. “Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung. […] Das Gedächtnis haftet am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand. Die Geschichte befasst sich nur mit zeitlichen Kontinuitäten, mit den Entwicklungen und Beziehungen der Dinge. Das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative.”[11] Noras Bestimmung des Gedächtnisses als “affektiv” und “magisch”, als aufs engste mit dem Kontext verbunden und von diesem nicht zu trennen, kann auf Andersens Straßenlaterne übertragen werden, die wiederholt von ihren affektiven Erinnerungen berichtet und sich als Teil des sie umgebenden Milieus begreift, zu dem der Straßenzug ebenso gehört wie das alte Wächterpaar. Ihre Erinnerungen sind davon nicht zu trennen, wie folgende Passage zeigt:

Hvorledes det gik eller ikke, den vilde blive været skilt fra Vægteren og hans Kone, hvem den betragtede ganske som sin Familie. Den blev Løgte da han blev Vægter. Konen var den Gang fiin paa det, kun om Aftenen naar hun gik forbi Løgten saae hun til den, men aldrig om Dagen. Nu derimod, i de sidste Aar, da de alle tre vare bievne gamle, Vægteren, Konen og Løgten, havde Konen ogsaa pleiet den, pudset Lampen af og skjænket Tran i den. […] Men der gik ogsaa andre Tanker igjennem den; der var saa-meget, den havde seet, saameget, den havde lyst til, […]. Den huskede saa meget, og imellem blussede Flammen op inde i den, det var som havde den en Følelse af: “ja, man husker ogsaa mig!” (S. 387)

Das Zitat macht deutlich, dass zur Lampe nicht nur ihre Erinnerungen gehören, sondern auch das sie betreffende Umfeld. Sie erinnert sich nicht etwa primär an das, was in ihrer Umgebung besprochen wurde, sondern an gestische und visuelle Momente sowie an Affekte. Wenn sie am Schluss beschließt, Laterne zu bleiben, so fasst sie diesen Entschluss in erster Linie aufgrund ihrer affektiven Verbundenheit mit dem alten Wächterpaar, das sie pflegt:

“Hvilke Evner jeg har!” sagde den gamle Løgte idet den vaagnede. “Næsten kunde jeg længes efter at smeltes om! – dog nei. Det maa ikke skee saalænge de gamle Folk leve! De holde af mig for min Persons Skyld! Jeg er dem jo, som i Barns Sted og de have skuret mig og de have givet mig Tran!” […] Og fra den Tid havde den mere indvortes Ro, og det fortjente den skikkelige gamle Gadeløgte. (S. 393)

Damit ist ein, wenn auch prekärer, Ausgleich hergestellt. Prekär ist dieser Ausgleich deshalb zu nennen, weil der Text nicht etwa von der definitiven inneren Ruhe berichtet, die die Laterne gefunden habe, sondern es ist ausdrücklich nur von “mehr innere[r] Ruhe” die Rede.

Dies ist deshalb der Fall, weil die Laterne sich danach zu sehnen beginnt, eingeschmolzen zu werden.

Wie ist das zu erklären? Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie sich zu Beginn des Märchens ja genau davor fürchtet? Die Begabung, von der im Zitat die Rede ist, besteht in der Imaginationsfähigkeit, der poetischen Phantasie der Laterne, die sich unmittelbar vor dem Zitat in einem Traum ihre Zukunft ausmalt. Dabei träumt sie, die alten Leute seien gestorben und sie selber sei zu einem schönen eisernen Leuchter in der Form eines Engels umgeschmolzen. Und dieser Leuchter würde auf dem Schreibtisch eines Dichters stehen, “og Alt hvad han tænkte og skrev, det rullede op rundt omkring, Stuen blev til dybe mørke Skove, til solbelyste Enge, hvor Storken gik og spankede, og til Skibsdækket høit paa det svulmende Hav!”(S. 393) Weil die Laterne sich das vorstellen kann, spürt sie das Verlangen, eingeschmolzen zu werden.

Andersens vermeintlich naives Märchen entpuppt sich mit diesem Schluss als ein Text, der das Dilemma der beginnenden Moderne auf den Punkt bringt. Die Laterne scheint zu merken, dass das Gedächtnis je länger je prekärer wird in einer arbeitsteiligen Welt, der der selbstverständliche Umgang mit der Vergangenheit abhanden kommt. Es wird verdrängt durch die Geschichte im Sinne Pierre Noras, durch ein reflektiertes Verhältnis zur Vergangenheit, das von einem deutlichen Gegensatz zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen ausgeht. Dass Andersen diesen Prozess im Gewände einer poetischen Imaginationsfähigkeit ausdrückt, verstellt den Blick auf diesen Befund, die ausgesuchte Künstlichkeit der neuen Form der Laterne spricht jedoch nichtsdestotrotz eine deutliche Sprache. Sie wird zum Engel, der einen Strauß trägt. Diese Transformation der Laterne in einen Leuchter muss bedacht werden, weil sie eine Verwandlung darstellt von einem Gegenstand, der im Alltagsleben eine konkrete Funktion zu erfüllen hat, zu einem Gegenstand, dessen Funktion eine ausschließlich ästhetische ist. Als rein ästhetischer hätte er das “Familiengedächtnis”, das ihn mit dem Wächterehepaar verbindet, als dessen Kindersatz die Laterne fungierte, verloren.[12] Als ästhetischer Leuchter eines Dichters wäre das neue Familiengedächtnis zwischen ihm und ihr nur noch ideell begründet, in der gemeinsamen Fähigkeit zur Imagination. Genau darauf zielt ja der Wind ab, der ihr zum Abschied versprach, ihren “Hjernekasse” auszulüften, “saa at Du klart og tydeligt ikke alene skal kunne huske hvad Du har hørt og seet, men naar der fortælles eller læses Noget i din Nærværelse, skal Du være saa klarhovedet, at Du ogsaa seer det!” (S. 390) Niels Kofoed verwischt den Unterschied zwischen den Seinsmodi der alten (funktionalen) Laterne und dem neuen (ästhetischen) Leuchter etwas, wenn er das Märchen als “allegori over digtersindet”[13] interpretiert, wobei seine Lesart durchaus möglich ist. Denn im Vergleich zur Laterne und dem Wächterpaar, die in gegenseitiger Abhängigkeit tätig miteinander verbunden waren, zeichnet sich das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Leuchter durch eine andere Qualität aus, die mit dem Begriff der Familienähnlichkeit nicht mehr adäquat zu erfassen ist. Vielmehr hat es sich zu einem rein geistigen gewandelt, das darin besteht, dass der Leuchter die poetische Imagination des Dichters nachvollziehcn kann. Der Leuchter hat als künstliches Gebilde fast die gleichen Fähigkeiten wie der Dichter; es scheint nämlich so zu sein, als ob Andersen die Grenzen zwischen Dichter und Laterne bewusst verwische. Denn wer imaginiert im oben stehenden Zitat wen oder was? Ist es der Dichter oder ist es die Laterne bzw. der nunmehrige Leuchter? Wie ist die Formulierung “og Alt hvad han tænkte og skrev, det rullede op rundt omkring” zu verstehen? Es ist hier augenfällig, dass der Dichter des Leuchters bedarf, um sein Geistesprodukt sichtbar zu machen und seine Imaginationskraft ist auch diejenige des Gegenstands, deshalb erwähnt dieser auch unmittelbar nach der Imagination seine eigene Begabung.

Was die Laterne am Dichter beeindruckt ist seine Fähigkeit, sich die Dinge vorzustellen, eine Fähigkeit, an der sie auch teilnimmt, wodurch sie in ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer Umgebung eintritt, ihre poetische Imaginationsfähigkeit ist an die sie umgebende Wirklichkeit nicht mehr gebunden, ihr anfängliches affektives Erinnern droht, von einer reflektierten und reflektierenden Poiesis verdrängt zu werden, wobei letztere sich vom Prinzip der Nachahmung (Mimesis) emanzipiert. Damit aber hat sich das affektive Erinnern der Laterne in ein reflektiertes, künstlerisches Imaginieren des Leuchters verwandelt. Interessant ist nun zu sehen, wie Andersen zwischen diesen beiden Polen, affektives Gedächtnis vs. poetisches, reflektiertes, hin und her schwankt, indem er in anderen Texten Letzterem die Aufgabe zuweist, die Vergangenheit hinüberzuretten in die Gegenwart. Dass aber der Kunst übertragen wird, was in einer “selbstverständlichen Gedächtnisgemeinschaft” (Pierre Nora) gar nicht extra gewollt werden muss, deutet auf das Prekäre des Rettungsversuchs hin, wie das Märchen Den gamle Liigsteen zeigt.

In diesem Text wird der Kunst die Aufgabe zugewiesen, die Vergangenheit für kommende Generationen zu tradieren und das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft zu repräsentieren. Schließt das Märchen Den gamle Gadeløgte noch mit einer Laterne, die sich mit ihrem Schicksal versöhnt und zumindest solange nicht eingeschmolzen werden will, wie das alte Wächterpaar noch lebt, wird in diesem Märchen ausdrücklich der Kunst die Aufgabe zugewiesen, von dem Vergangenen zu berichten, um es dadurch im zeitgenössischen Bewusstsein lebendig zu erhalten. Denn der letzte Träger eines verschütteten Wissens steht kurz vor dem Tod, deshalb schließt er seine Erzählung auch mit dem resignativen “Glemmes! – Alt skal glemmes!”. (SV2, S. 23)

Ein zufällig entdeckter Grabstein, auf dem nur noch verwitterte Initialen kaum lesbar sind, dient der Geschichte als Katalysator. Nur der Älteste der Anwesenden kennt noch das alte Ehepaar, auf das die Initialen verweisen, und er beginnt, dessen Geschichte zu erzählen. Er schließt seine Erzählung mit den Sätzen: “Den brolagte Gade gaaer nu hen over gamle Prebens og hans Hustrues Hvilested; Ingen husker dem mere!” (S. 22) Damit erweist sich der Älteste der Runde als der einzige, der kraft seines Alters noch fähig ist, eine dem Untergang geweihte Ordnung narrativ hinüberzuretten in die Gegenwart. Ihm geht es um das Andenken an das alte Ehepaar.

Andersens Märchen ist ein Säkularisierungsprozess eingeschrieben, der durch die Zweckentfremdung der Klosterkirche ausgedrückt wird, die von der anbrechenden neuen Zeit ausschließlich unter dem Aspekt ihres ökonomischen Nutzens gesehen wird. Vom großen Stein vor der Haustüre, der den Mägden nun als Abstellfläche für die gescheuerten Kupfersachen dient, heißt es:

“Ja,” sagde Manden i Huset, “jeg troer, den er fra den gamle nedbrudte Klosterkirke; der blev jo solgt baade Prædikestol, Epitaphier og Liigstene! Min salig Fader kjøbte flere af disse, de bleve slaaede itu til Brolægning, men denne Steen blev tilovers og den er siden bleven liggende i Gaarden.” (S. 21)

Deutlicher als in diesem Zitat kann der Zweckrationalismus der beginnenden Moderne kaum ausgedrückt werden. Damit aber steht diese neue Zeit in scharfem Gegensatz zu derjenigen, in der das alte Ehepaar lebte und die es gleichsam verkörperte, indem der gleiche Erzähler dessen Selbstlosigkeit und christliche Gesinnung hervorhebt: “De vare saa mageløst gode mod de Fattige! De bespiste dem, de klædte dem; og der var Fornuft og sand Christendom i al deres Godgjørenhed.” (S. 22) Der alte Erzähler sieht offenbar einen Zusammenhang zwischen dem Verlust der Erinnerungen und dem Aufkommen einer modernen zweckrationalen Lebensweise. Er zeigt auf, wie nachhaltig die räumlichen Gegebenheiten verändert werden und damit auch der Mensch seiner Fähigkeit beraubt wird, seine Erinnerungen, die an bestimmten Gegenständen festgemacht werden, topographisch zu verorten:

Det Bindingsværks Huus, med Bænken paa den høie Steentrappe under Lindetræet, blev revet ned af Magistraten, thi det var altfor brøstfældigt til at de kunde lade det staae. – Siden, da det gik med Klosterkirken ligesaadan, og Kirkegaarden blev hævet, saa kom Prebens og Marthes Gravsteen, som Alt derfra, til hvem der vilde kjøbe den, og nu har det truffet sig saa, at den ikke er blevet slaaet istykker og brugt, men ligger endnu i Gaarden til Legested for de Smaa og til Hylde for Pigernes skurede Kjøkkentøi. (S. 22)

“Gravstenen i Basnæs Have“. Zeichnung von Hans Christian Andersen, 10. Januar 1866. Den Grabstein hat Andersen im Märchen “Lygtemændene ere i Byen …“ von 1865 beschrieben. Hans Christian Andersen Museum.

Der alte Mann, der als Träger eines Wissens fungiert, das mit seinem Tod erlischt, behält jedoch nicht das letzte Wort. Die Gesprächsrunde widmet sich nach dieser Erinnerung anderen Dingen, und nur ein kleiner Junge wurde von der Erzählung derart beeindruckt, dass er den ihm zuvor “tom” und “flad” scheinenden Stein jetzt als ein “heelt stort Blad af en Historiebog” (S. 23) auffasst und seinen Blick in den Nachthimmel schweifen lässt, damit gleichsam die Wirklichkeit transzendierend. Das heißt, dass der Stein unter dem Eindruck des Erzählten semantisiert worden ist. Es ist die poetische Imaginationsfähigkeit des Jungen, die das Erscheinen des Engels bewirkt, der als Muse interpretiert werden darf. Sie soll ihn inspirieren, mit seiner dichterischen Schöpferkraft das – als Dichtung – entstehen zu lassen, was sonst in Vergessenheit geraten könnte. Voraussetzung dafür ist, dass es erinnerungswürdig ist. Das Gute und das Schöne werden nicht vergessen. Es muss “gut” und “schön” (Det Gode og Skjønne) sein, wobei diese zwei Begriffe sogar noch kursiv hervorgehoben sind. “Ved dig, du Barn, skal den udslettede Indskrift, den smuldrende Gravsteen, staae med lyse, gyldne Træk for kommende Slægter!” (S. 23) Andersen ist hier ganz einer idealistischen Ästhetik verpflichtet, die nur das als Gegenstand der Dichtung gelten lassen will, was mit dem ästhetischen Ideal des Guten und des Schönen in einer Verbindung steht. Erinnerungswürdig ist in dieser Konzeption nur das Schöne – hier das vorbildliche Leben und Wirken des alten Ehepaars -, und der Junge fungiert als Medium, durch das dieses Leben in das kulturelle Gedächtnis des Volkes eingeschrieben wird. Die Gabe des Dichtens ist im Grunde ein Geschenk des Himmels. Die metaphorische Redeweise des Engels ist aufschlussreich. Von einem “Samenkorn” ist die Rede, welches der Junge in Form der Erzählung erhalten habe. Dieses “Samenkorn” müsse bis zur Reife schlummern, es müsse zu einem blühenden Dichterwerk wachsen (“voxe til et blomstrende Digterværk”). Diese Metaphorik ist einer romantischen Vorstellung verpflichtet, wonach die Gabe des Dichtens nicht etwa gelernt werden kann, sondern als Geschenk Gottes anzusehen ist. Es ist eine Begabung des Einzelnen, der das “Samenkorn” als himmlisches Geschenk empfangen durfte. Andersen steht hier, vermutlich ohne es zu wissen, in der Tradition der antiken Mnemotechnik, derzufolge Mnemosyne als Göttin der Erinnerung auch die Mutter der neun Musen ist. Aufgabe der Kunst ist es, von dem zu sprechen, was die Gesellschaft verdrängt. In der Kunst soll die Tradition gerettet werden, die in der Lebenspraxis offenbar keinen Ort mehr hat. Mag auch die Erzählung im Musenanruf noch einen letzten Anklang an die antike Mnemonik aufweisen, so weist sie doch andererseits deutlich, dass der Bruch mit der Tradition unwiderruflich ist und sich mit den Verfahrensweisen der Memoria-Tradition nicht mehr beheben lässt. Denn es geht nicht mehr um den Fortbestand einer gelebten Tradition, wie sie durch das alte Ehepaar repräsentiert wurde, sondern nur noch um ein Hinüberretten derselben in das Reich der Kunst.

Erzählen und Erinnern

Bislang war wenig von der im Grunde trivialen Tatsache die Rede, dass in diesen Texten vom Erinnern erzählt wird, d.h. Erinnerung artikuliert sich im Medium der Sprache. In welchem Verhältnis das Erinnern und das Erzählen dieser Erinnerungen stehen, ist deshalb eine wichtige Frage. So ist es beispielsweise entscheidend, im Märchen Den gamle Liigsteen das Verhältnis von Figurenrede und Erzählerkommentar zu beachten, weil erstere durch letzteren konterkariert wird. Dergestalt wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Erzählsituation des Märchens gelenkt. Es handelt sich um eine Rahmenerzählung, wobei der mit Abstand Älteste der Runde mit seiner Erzählung über das alte Ehepaar fast den gesamten Text beansprucht. Eingerahmt wird seine Erzählung von einem heterodiegetischen Erzähler, d.h. der Erzähler als Figur ist nicht Teil der Erzählung. Es liegt eine ironische Textstruktur vor, insofern der Erzählverlauf die manifeste Aussage des Protagonisten konterkariert, wird doch, rezeptionsästhetisch gesehen, das alte Ehepaar gerade nicht vergessen, weil es im Text Andersens für den Leser weiterlebt. Aber auch auf der Textebene selber wird es nicht vergessen, weil der kleine Junge sein Andenken weiter tradieren wird.

Eine andere Form von Ironie finden wir im Märchen Den gamle Gadeløgte. Hier treffen die Erinnerungen der Gegenstände ebenfalls auf einen heterodiegetischen Erzähler, der ihr Erzählen ironisch bricht und so Distanz zwischen dem Leser und dem Diskurs der Gegenstände schafft. Das wird schon mit den ersten beiden Sätzen deutlich gemacht, hebt doch das Märchen folgendermaßen an: “Har Du hørt Historien om den gamle Gadeløgte? Den er slet ikke saa overordentlig morsom, men man kan altid høre den een Gang.” (SV1, S. 387) Solche metafiktiven Elemente durchbrechen den Gang der Erzählung und schaffen Distanz zum erzählten Geschehen. Der auktoriale Erzähler unterbricht und ordnet die Erzählung der alten Straßenlaterne, etwa wenn wir lesen: “Næste Dag — ja næste Dag kunne vi springe over; næste Aften laa Løgten i Lænestol, og hvor -? Hos den gamle Vægter.” (S. 391) Mit solchen Formulierungen wird auf die ordnende Hand des heterodiegetischen Erzählers aufmerksam gemacht, der die Erzählung der Straßenlaterne ordnet und in einen ihm sinnvoll erscheinenden Ablauf bringt.

“Den gamle Gadelygte“. Zeichnung von Vilhelm Pedersen, ca. 1846. Hans Christian Andersen Museum.

In ihrem Aufsatz Material Witnesses vergleicht Brigid Gaffikin die Aufgabe des heterodiegetischen Erzählers mit derjenigen des Historikers im Sinne der Bestimmung Pierre Noras. Wie der Historiker so müsse auch der auktoriale Erzähler die Erzählung in eine sinnvolle zeitliche Abfolge bringen und konsistent darstellen können, wozu es der Reflexion bedürfe.[14] Beide müssten Distanz zu den erzählten Ereignissen schaffen, um eine Vergangenheit zu rekonstruieren und die Ereignisse in einer sinnvollen Chronologie wiederzugeben. Aufgabe des Historikers ist die Analyse und kritische Argumentation.[15] Mit Noras Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis vor Augen ließe sich dann in der Tat mit Gaffikin sagen: “If, as Nora maintained, memory is located in the concrete, then in these eventyr it is allied with an object such as the disused lamp that protests, in the face of threats of memorial annihilation, that in fact wants both to retain and remember the past.”[16] Entsprechend wäre der Diskurs der Gegenstände, der, wie wir gesehen haben, emphatisch ist, dem zuzuordnen, was Nora als Gedächtnis bezeichnet.[17] Das heißt, wir haben es mit zwei sich konkurrierenden Systemen zu tun, wobei das Gedächtnis der Gegenstände, ihr Erinnerungsdiskurs vom ordnenden, leicht ironischen Geist des heterodiegetischen Erzählers bedroht ist. Dieser entscheidet, was er vom Erinnerungsdiskurs der Gegenstände in seine Erzählung übernehmen will. Noras antagonistisches Prinzip zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte wird in den Dingmärchen Andersens nachvollzogen auf der Ebene der Auseinandersetzung zwischen den erzählenden Gegenständen (= Gedächtnis) und dem heterodiegetischen Erzähler (= Geschichte).

Das Changieren zwischen einem Ich-Erzähler und einem Erzählen in der dritten Person ist auch Niels Kofoed aufgefallen, wenn er schreibt: “Andersen står på spring til at servere historien som jeg-fortælling, men han griber sig i det og fører så sin fremstilling tilbage til tredje person.”[18] Kofoed zufolge verwendet Andersen für die Retrospektion einen Ich-Erzähler, der in aller Ausführlichkeit seine Lebensgeschichte ausbreiten darf, obwohl diese, wie Kofoed bemerkt, für die Haupthandlung “uvedkommende” sei. Dass die alte Laterne soviel Raum in der Erzählung über sie einnehmen darf, zeigt jedoch, wie wichtig diese Erinnerungspassagen für Andersen waren, obwohl er sie der milden Ironie eines heterodiegetischen Erzählers aussetzt. Dieses Spiel zwischen einem ironischen, heterodiegetischen Erzähler und dem Ich-Erzählen der Figuren und Dinge, die durch ihre Geschichten die Aussagen des ersteren auch wieder relativieren können, macht das Reizvolle von Andersens Märchen aus.

“Theepotten“. Zeichnung von Lorenz Frølich, ca. 1862. Hans Christian Andersen Museum.

So gesehen ist es auch nicht unwichtig, dass am Schluss des Märchens vom alten Grabstein nicht etwa der heterodiegetische Erzähler das letzte Wort hat, sondern die Muse in Gestalt eines Engels. Ihre Rede vermag angesichts der realen Verhältnisse nicht mehr zu überzeugen, und zwar gerade deshalb, weil das “Schöne” und das “Gute” in der Lebenspraxis keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch im Reich des Fiktiven. Das ist in denjenigen Märchen zu sehen, wo das Motiv des Vergessens wirklich das letzte Wort behält, wie z.B. in Den stumme Bog das mit den Worten schließt: “Gjemt – glemt!” (SV3, S. 45) Fast scheint es so, als ob auch Andersen seinem Musenanruf nicht mehr ganz trauen wollte.

Spielt bei Kierkegaard[19] die Frage, inwieweit die Erinnerung überhaupt noch in einem Erlebnis fundiert ist, eine Rolle, bzw. droht bei ihm das Erinnern sich zu verselbständigen und zu einem rein schöpferischen Vorgang zu werden, dessen Verbindungslinie zur Empirie gekappt ist, ist Andersen im Vergleich dazu sorgsam darauf bedacht, die Erinnerungen seiner Figuren in einem Erlebnis derselben zu verorten oder sie materiell zu fundieren. Zwar wird auch beim Märchendichter die Erinnerung durch poetische Imaginationskraft in Gang gesetzt, allerdings ist diese Kraft letzten Endes doch in der Materie verankert bzw. geht von ihr aus. Auch der Dichtergabe des kleinen Jungen im Märchen Den gamle Liigsteen liegt ursächlich ein verwitterter Grabstein zugrunde, an dem sich die Erzählung des alten Mannes erst entzünden konnte. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die alten und vermeintlich wertlosen Dinge nicht vernichtet werden, weil an ihnen die Vergangenheit ablesbar ist. Etwas zugespitzt ließe sich sogar sagen, Andersen sei einer der ersten, der den Wert des Abfalls entdeckt und ihn nobilitiert habe, und zwar gerade unter dem Aspekt der Erinnerungsspuren, die in diesem verborgen sind.

Indem in Andersens Märchen darauf hingewiesen wird, dass Gedächtnis und Erinnerung letztlich nur entzifferbar aufgrund der Materie sind, können seine Texte auch als kritische Auseinandersetzung mit einer Memoriatradition verstanden werden, die die Auseinandersetzung mit dem Thema in erster Linie als Angelegenheit der Sprache versteht. In Andersens Dingmärchen wird nun im Gegenteil gezeigt, dass der Erinnerungsprozess durch seine Strukturierung im Medium der Sprache, eine Aufgabe, die der heterodiegetische Erzähler übernimmt, bedroht ist. Gäbe es keinen alten Grabstein, gäbe es letztlich auch keinen Jungen, der aufgrund der Erzählung über diesen Grabstein poetisch die Vergangenheit hinüberretten kann in die Gegenwart und Zukunft. D.h. am Anfang steht die Materie, und erst an zweiter Stelle kommt die Erzählung darüber.

Deshalb ist es in Andersens Dingmärchen so wichtig, dass die Dinge nicht vollständig zerstört werden. Wäre das der Fall, gäbe es keine Erinnerungen mehr. Im Märchen Theepotten wird dieser Gedanke deutlich ausgedrückt, indem die Teekanne zahlreiche Beschädigungen erfährt und zweckentfremdet wird, und zwar bis zu dem Punkt, wo sie bloß noch als Scherbe existiert und sagt: “Man slog mig midt over; det gjorde voldsomt ondt; men Blomsten kom i en bedre Potte, – og jeg blev kastet ud i Gaarden, ligger der som et gammelt Skaar, – men jeg har Erindringen, den kan jeg ikke miste!” (S. 49) Die Pointe dieses Märchens besteht darin, dass ein Bruchstück der Kanne übrig bleibt, das ist gleichsam sein Höhepunkt: ein gewöhnlicher Scherben fungiert als Aufhänger für die Erzählung. Jette Lundbo Levy geht in ihrer Lektüre des Märchens so weit, im Scherben eine Art von Allegorie der Erzählung selbst zu erblicken, wenn sie schreibt: “Som hyacinthen vokser ud af løget, sådan vokser fortællingen om tepotten ud af det bortkastede skår. Og fortællingen viser at skåret er noget, kan indgå i en ny helhed, som er fortællingen.”[20] Liest man den Text in dieser Art und Weise, tritt das Prekäre von Andersens Versuch, das Gedächtnismilieu im Sinne Pierre Noras zu retten für die Gegenwart, deutlich zu Tage. Wie schon bei der alten Straßenlaterne ist es nämlich auch hier ein Rettungsversuch unter ästhetischen Vorzeichen, eine Rettung im Reiche der Kunst sozusagen. Nur noch im Reich der Ästhetik ist es mittels poetischer Imagination möglich, die Erinnerung hinüberzuretten in die Gegenwart. Aber nicht einmal dieser Lösungsansatz ist immer von Erfolg gekrönt, wie das Märchen Den stumme Bog zeigt. In diesem sehr kurzen Text, der das Motiv des Verstummens zu seiner eigenen Poetik zu machen scheint, behält der Tod das letzte Wort, wenn der unglückliche Student mit seinem Buch unter dem Kopf begraben wird, und die Erzählung folgendermaßen schließt: “Nu komme Mændene med Søm og med Hammer, Laaget lægges over den Døde, der hviler sit Hoved paa den stumme Bog. Gjemt – glemt!” (SV3, S. 45) Das ist der Kommentar eines Erzählers, der zu wissen scheint, dass die Lebenspraxis schon längst in Gegensatz zum propagierten Erinnerungsmilieu geraten ist. Was unter solchen Vorzeichen als Einziges noch bleibt, sind, rezeptionsästhetisch gewendet, die Erinnerungen der Leser an Andersens Figuren. Überleben scheint das Gedächtnismilieu einzig im Bewusstsein der Leser, nicht in der empirischen Wirklichkeit. Der melancholische Ton von Andersens Dingmärchen hat in dieser Erkenntnis seinen Ursprung.

 

Anmerkungen

  1. ^ Vgl. beispielsweise Grätz 2006.
  2. ^ Unter einem Dingmärchen versteht die Forschung ein Märchen, in dem ein Ding, ein Gegenstand menschliche Züge erhält, eine Art von Personifizierung desselben. Der Gegenstand, z.B. ein Zinnsoldat, erhält menschliche Eigenschaften, er kann sprechen, handeln etc. In unserem Zusammenhang besonders interessant sind Gebrauchsgegenstände, die entweder kaputt gehen oder wegen fortschreitender Modernisierung Gefahr laufen, aus dem Verkehr gezogen zu werden. Zur Typologie der Dingmärchen vgl. Lundbo Levy 1998: 261.
  3. ^ Vgl. Detering und Depenbrock 1993.
  4. ^ Vgl. Rejseskildringer I, København 2006, S. 66.
  5. ^ Vgl. Götsch 2001: 494.
  6. ^ Rejseskildringer II, København 2006, S. 220.
  7. ^ Zitiert nach Götsch 2001: 490.
  8. ^ Nora 1998: 13.
  9. ^ Ebd., S. 11.
  10. ^ Ebd., S. 12.
  11. ^ Ebd., S. 14.
  12. ^ “Familiengedächtnis” ist ein Begriff, den Maurice Halbwachs in seiner Studie Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen verwendet. Halbwachs unterstreicht mit diesem Begriff sein zentrales Anliegen, das Gedächtnis von seinen sozialen Bedingungen her zu verstehen. Ihm zufolge gibt es eine Art von kollektivem Gruppengedächtnis, das die Mitglieder, beispielsweise einer Familie, aufgrund ihrer klaren Position innerhalb der Gruppe miteinander teilen und das etwas anderes ist als das Gedächtnis des einzelnen Vertreters dieser Gruppe. Dies sei u.a. deshalb so, weil mit dem Eintritt in eine Gruppe bereits existierende Regeln, Gewohnheiten und Denkweisen unsere Stellung in dieser Gruppe bestimmen. Vgl. hierzu Halbwachs 1985: 203-242.
  13. ^ Kofoed 1967: 114.
  14. ^ Vgl. Gaffikin 2004: 194.
  15. ^ Vgl. Gaffikin 2004.
  16. ^ Gaffikin 2004: 194.
  17. ^ Diese Bezeichnung ist, zumal für Leute mit Deutsch als Muttersprache, etwas irritierend, weil man auf Deutsch für Noras Begriff des Gedächtnisses eher denjenigen der Erinnerung brauchen würde: persönliche, affektiv aufgeladene Erlebnisse der Vergangenheit, die für den Betreffenden wichtig sind und an die man sich folglich auch erinnern kann.
  18. ^ Kofoed 1967: 115.
  19. ^ Vgl. etwa die Fortale zu den Stadier paa Livets Vei.
  20. ^ Lundbo Levy 1998: 266.

 

 

Litteratur

  • Detering, Heinrich; Depenbrock, Heike: “Poesie und industrielles Zeitalter in H.C. Andersens I Sverrig.” In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen and the World, Odense 1993, S. 31-55.
  • Gaffikin, Brigid: “Material Witnesses. Hans Christian Andersens Tingseventyr and the Memories of Things”, in: Edda 3 (2004), S. 186-200.
  • Götsch, Dietmar: “Entfernendes Begreifen. Zu Kierkegaards Konzeption der Erinnerung”, in: Heitmann, Annegret (Hrsg.): Arbeiten zur Skandinavistik, Frankfurt am Main 2001, S. 489-498. Grätz, Katharina: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006.
  • Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Beziehungen, Frankfurt am Main 1985, [frz. Original 1925].
  • Hauberg Mortensen, Finn: “Ting og eventyr”, in: Nordica 23 (2006), S. 61-79.
  • Kierkegaard, Søren: Stadier paa Livets Vei, in: Skrifter, bind 6, København 1999 [1845],
  • Kofoed, Niels: Studier i H.C. Andersens fortællekunst, København 1967.
  • Lundbo Levy, Jette: “Om ting der går i stykker. Ekelöf og Andersen”, in: Edda 3 (1998), S. 259-267. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, [frz. Original 1984, 1986].

 

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