Hans Christian Andersen und Carl Spitteler

Werner Stauffacher

I

Es waren am 22. September 1961 genau hundert Jahre her, seit Carl Spitteler den Namen Andersen auf der ersten Seite seines frühesten Tagebuches eintrug[1]. Der Sechzehnjährige war zu dieser Zeit Schüler Jacob Burckhardts und Jacob Wackernagels am Basler ‘Pädagogium’, wohnte aber mit seinen Eltern in Liestal, dem Hauptort des Halbkantons Baselland, der sich dreis-sig Jahre vorher von der Stadt Basel gelöst hatte und in dessen öffentlichen Leben die Familie des zukünftigen Dichters eine bedeutende Rolle spielte. Eben war der junge Mann in jene Phase seiner geistigen Entwicklung getreten, die er später als sein ‘Entscheidendes Jahr’ bezeichnet und in einem schönen Erinnerungsbuch geschildert hat[2]: eine erste zarte Liebe zur Tochter des Stadtpfarrers, Anna Widmann, war vorausgegangen, die Zweifelsfragen des Konfirmandenunterrichts, von einem liberal fühlenden und lebenden, aber orthodox lehrenden Manne[3] erteilt, hatten den Denker geweckt, das Pädagogium regte seit einem Jahr zu selbständiger Lektüre an. Eine Tante, der ‘gute Genius’ seiner Jugend[4], hatte ihn gleichzeitig in die hohe Musik eingeführt und ihm Feuchterslebens „Diätetik der Seele“ zu lesen gegeben, im Frühsommer 1861 hatte den Jüngling über dem „Titan“ die damals unvermeidliche Jean-Paul-Begeisterung ergriffen, bald darauf war im Zeichen dieser Begeisterung der Freundschaftsbund mit dem frühreifen, dichterisch begabten Joseph Viktor Widmann geschlossen und beschworen worden. Unbekannte Kräfte regten sich, alle Möglichkeiten schienen dem jungen Geiste offenzustehen, ohne dass dieser wusste, zu welcher er wirklich berufen war. In diese schmerzhafte Gärung suchte seit dem Herbst 1861 das erwähnte Tagebuch einige Klarheit zu bringen, monatelang ging alles durcheinander, bis ein Jahr darauf, nachdem die malerischen und musikalischen Versuche sich als Irrwege erwiesen hatten, der Entschluss zum Dichtertum reifte, dem ‘entscheidenden Jahr’ ein Ende setzte und nun erst die freilich ungewöhnlich lange Entwicklung zum dichterischen Werk eröffnete, die im Jahre 1880 mit der Veröffentlichung von „Prometheus und Epimetheus“ ihre erste Krönung fand.

In diese Epoche der Gärung fällt eine offenbar tiefgehende Begegnung Spittelers mit Andersens Werk. Wann Spitteler Andersen zum erstenmal gelesen hat, entzieht unserer Kenntnis. Sein Exemplar der Märchen Andersens, die sechste Auflage der „Gesammelten Märchen“ bei Borck aus dem Jahre 1854, ist zwar erhalten. Es setzt aber trotz dem Namenseintrag und den deutlichen Lesespuren im Inhaltsverzeichnis wohl einen zu frühen terminus post quem, als dass er uns unmittelbar dienlich sein könnte. Wenn man Spittelers Hinweis in den „Mädchenfeinden“[5], wo davon berichtet wird, dass die Grossmutter den Knaben Gerold und Hansli nach dem Betzeitläuten das Märchen von der Schneekönigin erzählt habe, auf ihn selber beziehen darf, dann wäre indessen die erste Begegnung mit Andersen doch noch auf die Berner Zeit, d. h. vor 1856 anzusetzen. Dass gerade von der „Schneekönigin“ die Rede ist, würde unsere Vermutung bestätigen. Sie ist es, die die deutlichste Spur in Spittelers Werk hinterlassen hat. Wir hätten es dann bei der Andersen-Lektüre des Jahres 1861 mit einer Wiederaufnahme zu tun, was nach den bezeugten Kantstudien und neben der Lektüre von Carrières „Aesthetik“, ja nach der Titan-Lektüre allerdings noch merkwürdig genug vorkommt.

Wir können ziemlich bestimmt sagen, welche Märchen Spitteler in jenen September- und Oktoberwochen gelesen hat. Wir wissen wenigstens mit einiger Sicherheit, was er im Oktober der unerreichbaren Geliebten, Anna Widmann, zu eigenem Genusse empfahl. Die Auswahl ist charakteristisch genug. Es handelt sich um die „Kleine Seejungfrau“, das „Hässliche junge Entlein“, die „Glocke“, die „Roten Schuhe“, den „Rosenelf“, das „Kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“, das „Gänseblümchen“, die „Geschichte einer Mutter“. Zu der Sentimentalität und hausbackenen Moral dieser Märchen ist wohl kaum ein Wort zu verlieren: diese Züge sind vielen Geschichten Andersens eigen, und dass sie vor hundert Jahren auf einen Sechzehnjährigen nicht abstossend wirkten, ist nicht weiter verwunderlich.

Naheliegend sind auch die Motive glücklicher und unglücklicher Liebe: die Striche im Inhaltsverzeichnis sind ja für die Geliebte angebracht worden. Aufschlussreicher für Spittelers geistigen Zustand und für die Hauptrichtung seiner damaligen Aufnahme Andersens sind dagegen der Todesmythus in der „Geschichte einer Mutter“, dem zahlreiche ähnliche Motive in Spittelers späterem Werk entsprechen, vor allem aber die Berufungsmotive im „Hässlichen jungen Entlein“ und in der „Glocke“. In beiden Fällen sind Erlebnisse schwierigen Durchbruchs zum Höheren geschildert. Im hässlichen jungen Entlein ist das Wesen eines herrlichen Schwanes angelegt. Jenseits einer langen Zeit der Verkennung und der Verfolgung öffnet sich ihm schliesslich ein Leben höherer Art, höher, als es sich die Verfolger vorstellen können. Solche Gefühle müssen Spitteler in jenem Herbst selber bewegt haben, und auch hier sind entsprechende Motive im späteren Werke nicht selten. Die Glocke aber, als ein Symbol der höheren Berufung, die den Auserlesenen durch die Wildnis führt, den Königssohn wie den armen Konfirmanden, – diese Glocke musste dem unscheinbaren Konfirmanden Spitteler, der sich neben den schon gefeierten ‘Königssohn’ und Freund Widmann gestellt hatte besonders nahegehen, und wieder antworten zahlreiche Motive aus Spittelers Werk: der Sechzigjährige wird dem Glockenmotiv eine ganze Gedichtsammlung widmen, wo gleich zu Anfang das Dichterische als Gesang der Glocke verkündet wird[6]. Ja auch die Geschichte von der kleinen Seejungfrau lässt sich in die Sphäre der Berufungserlebnisse übertragen, wie überhaupt Liebe und künstlerische Berufung für den jungen Spitteler nicht zu trennen waren. Besonders merkwürdig in diesem Zusammenhang ist das Motiv des Verstummens der Seejungfrau nach ihrer Verwandlung in Menschengestalt. Spittelers Kunstwollen ging damals wie später nicht in erster Linie auf eine redende Kunst, die Sprache war ihm eher störende Bedingung als beschwingendes Medium des Dichtertums. Dass die Erfüllung aber durch Schmerzen und Stummheit erkauft werden musste, dieses Motiv muss nicht nur den Liebenden, sondern auch den werdenden Künstler Spitteler tief berührt haben.

Es ist dabei wahrscheinlich, dass die an sich eher unerwartete Begegnung Spittelers mit Andersen im Herbst 1861 unter dem Erlebnis persönlicher Nähe des Dichters gestanden hat und von hier aus begünstigt worden ist. Jedenfalls gerät sie sehr bald in diese Konstellation. Im Pfarrhaus Widmann zu Liestal musste man wenigstens schon im September wissen, dass Andersen nach einer ersten Durchreise in den vierziger Jahren seit einem Jahr mindestens zweimal in Basel gewesen war und sich im Frühling 1861 dort fast eine Woche bei Freunden aufgehalten hatte. Das Pfarrhaus Widmann war mit allem bekannt, was sich in und um Basel herum Künstler nannte, vor allem mit der zweiten Garnitur und aus natürlicher Herzens-güte auch mit Dilettanten und Scharlatanen. Es besteht vor allem kein Grund, daran zu zweifeln, dass der Basler Kunstmaler Gustav Adolf Am-berger[7] nicht erst seit dem Oktober 1861 – als sein Name erstmals als Bekannter des Hauses Widmann in Spittelers Tagebuch auftaucht – im gastlichen Pfarrhaus verkehrt hat, sondern, dass sein Verkehr in frühere Zeit zurückreicht. Amberger aber war es, der 1860 Andersen in Brunnen kennengelernt, sich mit ihm befreundet und ihn nach Basel eingeladen hatte. Ihn hatte Andersen im Frühling 1861 in Basel aufgesucht, und mit ihm war er im Sommer wieder in Brunnen (Kanton Schwyz) zusammen gewesen. Die lärmende Begeisterung Ambergers für den Märchendichter, in dessen Weltruhm sich der Maler sonnte, konnte in Liestal nicht verborgen geblieben sein, – und muss sich über Anna Widmann, – der Amberger den Hof machte – dem jungen Spitteler mitgeteilt haben, falls sich dieser nicht vorher schon mit Andersen beschäftigt haben sollte. Wenn Spitteler am 14. Oktober dann der Freundin seinen Andersen überreicht und sie auf die unterstrichenen Stücke aufmerksam macht, so wird damit kaum eine erste Lektüre Andersens beabsichtigt gewesen sein, sondern die Stiftung gemeinsamen Erlebens.

Wie sich die Bekanntschaft Spittelers mit Andersens Freund Amberger, die seit dem 13. Oktober durch das Tagebuch bezeugt ist und sich über mehrere Monate erstreckt, auf Spittelers Andersen-Erlebnis ausgewirkt hat, ist nicht leicht zu sagen. Zunächst mag es sich wohl um eine Vertiefung gehandelt haben. Amberger war es ja, der gerade damals Spittelers angebliche Malertalente als erster in fachmännischer Weise zu fördern suchte. Während einiger Wochen ging Spitteler bei ihm fast täglich ein und aus und knüpfte die grössten Hoffnungen an diesen Unterricht. Dabei muss er auch manches von Andersen erfahren haben. Auf das Haus Widmann und auf Spitteler bezieht sich wohl der Satz in Ambergers Brief an Andersen vom 27. Dezember 1861: „In allen meinen Kreisen sind Sie unser Gespräch“[8]. Am 14. Oktober schon, also am Tage, da Amberger Spitteler einlud, zu ihm zu kommen, damit er seine Zeichnungen ‘korrigiere’, heisst es in Spittelers Tagebuch: „Ich überreichte ihr (Anna Widmann) Andersen und sagte ihr, dass die unterstrichenen Geschichtchen meine Lieblingsgeschichten seien. Dabei meldete ich ihr den Gruss von Amberger mit dem Aufträge, er hätte ihr ein neues Buch von Andersen schon geschickt, wenn er nicht selbst den Eindruck davon sehen wollte, was Fräulein Wimmer (eine im Pfarrhaus lebende Schwester Frau Widmanns) so erklärte, dass er es vorzulesen im Sinne habe.“ Am 15. Oktober lobt Pepi ( = Josef Viktor Widmann) laut Tagebuch Spittelers „Glückliche Insel“ (eine bebilderte Versdichtung) und erzählte, man könnte sie zu Andersens Märchen stellen. Am 27. Oktober heisst es schliesslich: „Ich stand spät auf, ging dann in die Kirche, träumte von Madonnen, von Bildnissen zu Andersens Märchen . . . von einer Meereslandschaft, wo man nichts sieht als Himmel und Meer.“[9]

So scheint schliesslich, nicht zuletzt dank Amberger, der ganze Herbst 1861 in das Licht Andersens getaucht. Dabei aber war Amberger für Spit-teler doch auch von Anfang an ein Rivale in seinen Beziehungen zu Anna, wenn er auch spüren musste, dass Anna den eiteln Gesellen kaum ernst nahm. Zudem stellten sich bei dem Kunstjünger sehr bald Zweifel an der fachlichen Tüchtigkeit und moralischen Verlässlichkeit des Lehrers ein. Statt ihn in eine ernste und hohe Kunst einzuführen, wie es der gärende Drang in dem jungen Manne selbstverständlich erwartete, liess Amberger seinen Schüler wertlose und zum Teil abgeschmackte Machwerke kopieren und behandelte ihn zudem je nach Laune von oben herab. Als dann nach Neujahr selbst Anna fand, wenn ihr Anbeter einen solchen zeichnerischen Geschmack entwickle, solle er das Zeichen lieber aufgeben, schwur Spit-teler, ihr bald anderes zu zeigen. Bald darauf müssen die Stunden bei Amberger sich im Sande verlaufen haben. Zu einem eigentlichen Zerwürfnis kam es nicht, dazu war Spitteler wohl zu jung und zu unsicher. Einen günstigen Einfluss auf sein Andersen-Erlebnis kann dieser Ausgang des Zeichenunterrichts aber nicht ausgeübt haben, und wir wundern uns nicht, dass der Name Andersen nach dem Oktober 1861 aus dem Tagebuch verschwindet. Die Kunst, der Spitteler in seinem „entscheidenden Jahre“ nachstrebte, war zwar wohl der fernen Glocke in Andersens Märchen vergleichbar, hatte aber schliesslich weder mit dessen Gefühlsseligkeit noch mit dessen Moralismus und Humor das Geringste zu schaffen. Andersen hatte mit Liebes- und Berufungsmotiven in einer bestimmten Phase der Berufungskrise Spittelers unter günstigen Umständen verwandte Saiten berühren können, weiter vermochte er nicht zu führen. Die eigentlichen Lehrmeister des Dichters Spitteler sind nicht die Autoren des „entscheidenden Jahres“, weder Kant noch Feuchtersieben, weder Jean Paul noch Andersen geworden, sondern nach eigenem Geständnis die klassischen Symphoniker: die Ohnmacht des jungen Spitteler über dem Anhören von Mozarts Requiem am 3. März 1862 setzt den gehörigen Trennungsstrich. Der Dichter Spitteler, der aus dem Entschluss des Sommers 1862 hervorgeht, wird sich zum Ziele setzen, kein Werk herausgeben, das sich nicht mit Beethovens Opus eins messen dürfe.[10]

II

Die biographische Seite von Spittelers Andersen-Erlebnis ist damit wohl endgültig abgeschlossen. Andersen wird in keinem der zahlreichen Aufsätze erwähnt, und sogar in den autobiographischen Schriften erscheint sein Name nur im Zusammenhang mit jenen ersten Tagebuchseiten, die Spitteler als Muster in seine Darstellung des „entscheidenden Jahres“ aufgenommen hat. Und doch ist die Andersenlektüre nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Nachweisbare Entlehnungen sind freilich selten. Ich habe deren nur zwei namhaft machen können. Es handelt sich um Motive aus Andersens „Schweinehirt“ und aus der „Schneekönigin“.

Die Entlehnung aus dem „Schweinehirten“ ist weniger bedeutend. Ausgangspunkt ist hier die Szene, wo die Prinzessin den von ihr als Prinz verschmähten Schweinehirten ihres Vaters küsst, um den Schellentopf zu erhalten, und wo die Hofdamen einen Kreis bilden müssen, damit es niemand sehe: „Und die Hofdamen stellten sich vor sie, und dann breiteten sie ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt die zehn Küsse, und sie bekam den Topf.“

Dieses Motiv ist von Spitteler in ein Gedicht eingeführt worden, das ursprünglich für die „Schmetterlinge“ gedacht war, dann ausgeschieden und schliesslich gekürzt in die „Glockenlieder“ aufgenommen wurde.[11] Der Kern ist erhalten: die Küsse einer sozial (scheinbar) Höhergestellten und die Abschirmung des unerlaubten Geschehens durch die Freundinnen. Auch der (provisorische) Hirtenberuf des Geküssten ist geblieben: aus dem Schweinehirten ist allerdings ein Ziegenknabe geworden, wie überhaupt der ganze Vorgang ins Unschuldige übersetzt ist. Aus dem grausamen Racheakt des verkleideten Prinzen wird das träumende Hinnehmen verführerischer Küsse durch einen Halbwüchsigen, hinter dessen Hirtenkleidung wir eine zu Höherem bestimmte, vielleicht dichterische Seele vermuten dürfen. An die Stelle der Prinzessin und ihres Hofes sind anspruchslosere Stadtfräulein getreten:

Und zwei fremde feine Fräulein tauchten
Aus dem Stapfelfussweg auf, vom Dorf her.
Rief das erste Fräulein zu dem zweiten:
„Wohl mir! Wonne! Sieh dort jenen Knaben
Unterm Nussbaum liegen. Locken hangen
Ueber seine Stirn, und Mund und Wangen
Sind wie Kissen, gut gemacht zum Küssen.“
Also sprechend lief sie durch den Rasen,
Beugte sich, und während dass die Freundin
Ihr gespreiztes Kleid als Vorhang schützte,
Küsste sie beherzt auf Mund und Wangen
Zehn- und zwölfmal den erschrocknen Knaben.
Ueber diesem tauschten sie die Rollen:
Zwar die erste stellte sich als Vorhang,
Und die andre kostete die Küsse.

Etwas vom bösen Hintergrund der Märchenszene ist hängen geblieben, freilich ins Harmlose gemildert, entsprechend der gesamten Uebertragung: der Ziegenknabe fühlt sich verführt, seiner eigentlichen Liebe untreu, die der Tochter des Stadtpfarrers gilt. Diese heisst Anna, wie die Tochter des Pfarrers von Liestal, der der junge Spitteler fünfundzwanzig Jahre vorher sein Exemplar von Andersens Märchen übergeben hatte. Damit schliesst sich nicht nur der Ring der Abhängigkeitsbeweise, sondern wir sehen hier doch wieder das Urmotiv Andersens durchschimmern: die Rache des Verschmähten. Nachdem der Ziegenknabe nämlich zuerst sehnsüchtig von der ihm offenbar unerreichbaren Pfarrerstochter geträumt hat, nachdem er von den Stadtfeen geküsst und vom Feuer der Reue verzehrt worden ist, begegnet er ausgerechnet der Familie des Pfarrer, und es scheint, dass die Reue des Verführten ihm besonders gut steht:

Und das Fräulein Anna, lieblich blickend,
Sah sich um und flüsterte zur Mutter:
„Was der Ziegenheinrich gross und hübsch wird!“

In diese verheissungsvollen Worte klingt das anspruchslose Gedicht aus. Dass hinter seinen Motiven die Sehnsüchte des liebenden und verschmähten Jünglings wie des von der Kritik damals noch verschmähten Künstlers Spitteler stehen, darauf braucht nicht besonders hingewiesen zu werden.

Während das Motiv vom Schweinehirten nur als eine Szene in ein sonst anders geartetes Ganzes aufgenommen worden ist, steht Andersens Schneekönigin im Mittelpunkt eines sogar gleichbenannten Gedichtes. Dieses Gedicht ist 1893 entstanden und mit den „Balladen“ veröffentlicht worden.[12]

Die „Schneekönigin“ gehört zu den bekanntesten Märchen Andersens. Den Ausgang der Geschichte bildet die typisch romantische Legende vom Teufelsspiegel. Der Teufel hat einen Spiegel verfertigt, der die Welt so darstellt, wie er sie sieht, das heisst verkehrt und böse. Dieser Spiegel zerbricht in tausend Splitter, die in alle Winde zerstieben. Wem diese Splitter ins Auge oder gar ins Herz dringen, der wird unfähig zur liebenden Betrachtung der Welt. Er ist der Kälte des Verstandes ausgeliefert. Die Spiegelscherben aber sind gleichzeitig ein Symbol dessen, was mit einem Knaben in den Pubertätsjahren geschieht: eine vorübergehende Entfremdung den Mädchen gegenüber tritt ein. So etwas ereignet sich zwischen den Hauptgestalten des Märchens, dem Knaben Kaj und dem Mädchen Gerda. In der Verblendung, die der Glassplitter in seinem Auge bewirkt, fällt Kaj in die Hände der Schneekönigin. Diese entführt ihn in den hohen Norden, wo ihr Palast liegt. Sie lässt ihn dort das „Verstandes-Eisspiel“ spielen, das er doch nicht eigentlich zu spielen versteht. Gerda aber macht sich auf, ihren Freund zu erlösen, und nach manchen Fährnissen gelingt es ihr auch. Am Ende steht, wie es sich im Märchen gehört, das dauernde Liebesglück der beiden.

Aus diesem komplexen, ziemlich schwer befrachteten und umfangreichen Kunstmärchen ist in Spittelers „Schneekönigin“ etwas sehr viel Einfacheres geworden. Von dem Spiegelmotiv ist hier nicht die Rede. Von den beiden Kindern ist nur das Mädchen übriggeblieben, das zwar denselben Namen tragt wie im Märchen, aber nicht nur keine Erlöserin ist, sondern ihrerseits von der Schneekönigin verführt wird. Damit ist natürlich der gesamte erotische Hintergrund der Geschichte Andersens verschwunden, sowohl die Beziehung zwischen Gerda und Kaj wie die zwischen Kaj und der Schneekönigin. Aus der geheimnisumwitterten Märchenkönigin ist eine Art Elementargeist geworden, dessen böse Absichten nicht einmal deutlich ausgesprochen werden. Wohl ist der Schlitten Gerdas von Anfang an wie verhext; aber diese Schwierigkeiten stehen in keiner notwendigen Beziehung zur Erscheinung der Schneekönigin. Es beginnt einfach zu schneien. Dem Mädchen wird „bang“ und „kalt“. In seine zunehmende Müdigkeit erst strahlt nun plötzlich die Gestalt der Schneekönigin. Sie tritt eigentlich ein für das bekannte trügerische Wohlbefinden, das den Erschöpften zum Schlaf verleitet, sie ist eine Fata Morgana des Erfrierungstodes, eine Personifikation der tödlichen Winterkälte. In ihren Händen scheint nun der Schlitten plötzlich zu fliegen:

Verschwunden ist die Müdigkeit, das Auge jauchzt und strahlt.
Und unversehens glänzt die Welt mit Märchenschein bemalt.
Es lebt der Wald, es singt die Luft, so hold, man glaubt es kaum.
Diamanten sprüht das Gletscherfeld und Sterne spriesst der Raum.

Wie sie gekommen, verschwindet die Schneekönigin. Der Ruf der Mutter, der offenbar noch schwach das Bewusstsein der einschlummernden Gerda erreicht, vertreibt sie. Am Ende steht der Tod. Das Begräbnis wird fast im Klang einer Moritat geschildert:

Nach sieben Tagen blies der Föhn vom Berge lau und lind.
Was weinen und was wimmern so die Glocken durch den Wind?
Schulmädchen folgen einem Sarg, den Wagen lenkt der Tod.
Verlassen steht im Kämmerlein der Schlitten weiss und rot.
Ein grünes Kränzlein liegt darauf mit einem Bibelspruch.
Und ewig klafft im Einmaleins ein ungelöster Bruch.

Ob der ungelöste Bruch im Einmaleins auf jene Stelle bei Andersen zu beziehen ist, wo Kaj der Schneekönigin seine Bruchrechenkünste rühmt, ist nicht auszumachen. Das Motiv hat jedenfalls bei Spitteler einen anderen Sinn. Bei Andersen ist es ein Ausdruck der Verstandeskälte und bloss rechnerischen Fertigkeit des Jungen in seinem vom Spiegelsplitter veränderten Zustand, bei Spitteler weist es auf die Ungelöstheit der Schicksalshieroglyphe. Es ist ein Symbol der bösen Welt, eher im Sinne jenes Mythos der „Extramundana“, der die Schöpfung aus einem nicht wieder gut zu machenden Rechnungsfehler erklärt.[13] Der optimistischen Symbolik der Märchenwelt Andersens steht also hier deutlich der pessimistische Realismus Spittelers gegenüber.

Die Wirkungen von Andersens „Schneekönigin“ wären indessen nicht vollständig beschrieben, wenn wir uns mit einer Betrachtung dieser Ballade begnügten. Wir haben vorhin gesagt, dass das Motiv vom Teufelsspiegel von Spitteler fallen gelassen wurde. Das stimmt, doch scheint es nicht verloren gegangen zu sein: ich glaube es in der Motivik einer anderen ‘Ballade’ aus jenen Jahren wiederzuerkennen. Unter der Ueberschrift „Korrektur des Weibes“[14] wird hier erzählt, wie Adam seiner Frau überdrüssig wird und Gott der Herr im Aerger auch wirklich die Schöpfung der Frau rückgängig machen will. Da spricht Ariel, „der findigste der Seraphim“:

„O Herr, die Schöpfung kann des Weibes nicht entbehren.
Gestatt es mir, den Nörgler will ich schnell bekehren.“
Bei diesen Worten bückte Ariel sich und las
Vom Himmelsboden ein gefärbtes Stäubchen Glas.
Das fügt er heimlich hinter Evas Augen ein,
So dass das Stäubchen glänzte durch die Fensterlein.
Und kaum dass Adam den geborgten Schimmer sah,
So jauchzt er: Haschamajim! Jah! Hallelujah!

Es fällt mit keine plausiblere Herkunft für dieses Motiv ein, als gerade Andersens Teufelsspiegel. Auch hier handelt es sich um einen magischen Glassplitter, der am Menschen eine Veränderung des Weltbildes verursacht. Aber welche Umgestaltung! Aus der Teufelei wird eine Engelei (obwohl Ariel, als „Findigster der Seraphim“, dem Kobold Andersens nicht allzu fern steht und auch der Spiegel Andersens in der Nähe des Himmels zerbrach). Der Splitter dringt nicht Adam ins Auge, damit er Eva anders sehe, wie Kaj Gerda anders sah, sondern er wird Eva ins Auge gesetzt, damit Adam durch Eva hindurch das ersehnte und verlorene Paradies erblicke. Aus der kurzen Verblendung des Knaben in den Flegeljahren ist die dauernde Verklärung des Weibes für den Mann geworden, aus der Erstarrung der Liebesfähigkeit, ein Liebeszauber. So ergänzt, von Andersen her gesehen, die „Denkwürdigkeit“ von Adam und Eva die Ballade von der Schneekönigin auf nachdrückliche Weise nach der erotischen Seite, die dort zu kurz gekommen war. Naturdämonie und Liebesdämonie sind auseinandergetreten und haben ihren bezeichnenden Spittelerschen Ausdruck gefunden.

Mit der Betrachtung des fast zur Unkenntlichkeit verwandelten Motivs vom magischen Splitter sind wir allerdings an den äussersten Rand der nachweisbaren Beziehungen zwischen Spittelers und Andersens Werk getreten. Das Splittermotiv ist ja bei Andersen wie bei Spitteler nur eine Möglichkeit, der Psychologie auszuweichen, die der Dichter Spitteler in die Prosa verweist, es ist so einfach, dass man keine fremde Herkunft anzunehmen brauchte, und nur die anderswo nachweisbare Einwirkung von Andersens Märchen von der Schneekönigin erhebt meinen Hinweis in den Rang der Wahrscheinlichkeit.

Blosse Parallelen und Anklänge zu Andersen aber lassen sich bei Spitteler sehr viele namhaft machen. Sie betreffen vor allem die Thematik künstlerischer Berufung. So darf man wohl die Seele des Prometheus in ihrer dämonisch fordernden, ins Elend des äusseren Lebens führenden Erscheinung oder die strenge Herrin im Roman „Imago“ zur Gestalt der Schneekönigin in Beziehung bringen – und vielleicht nährt sich auch die Ballade Spittelers gerade von diesem geheimeren Zusammenhang, der die Ambivalenz dichterischer Motive deutlich macht – von einer Herkunft oder Abhängigkeit darf hier dagegen keine Rede sein. Unstreitig erinnert die Muttergestalt im „Verlorenen Sohn“ der „Extramundana“ an die uner-schrockene Mutter in Andersens Märchen, und auch die Verbindung kosmischer Motive mit der Idyllik der Heimatpoesie kommt schon bei Andersen vor. Auch die Vision einer vollkommenen Welt im „Weltbaugericht“ derselben Dichtung kann mit Andersens Vision vom Garten des Paradieses in Verbindung gebracht werden. Doch handelt es sich hier wie dort und überhaupt in vielen solchen Fällen um Motive, die sich durch die epische Dichtung des ganzen Abendlandes hindurch ziehen. Darf Spittelers „Blütenfee“ in den „Balladen“, die das Thema kreatürlicher Vergänglichkeit im Motiv der vergehenden Blüte prägnant zum Ausdruck bringt, wirklich irgendwie von Andersens „Fliedermütterchen“ und seiner romantischen Auflösung aller Zeitkonturen hergeleitet werden? Deutlicher scheint mir dagegen wiederum der Gesang von „Hermes dem Erlöser“ im „Olympischen Frühling“ auf Andersen hinzuweisen, und zwar auf dessen Märchen vom „Reisekameraden“. Hier wie dort handelt es sich darum, eine Frau aus schwerem Zauberbann zu erlösen, hier wie dort geschieht die Erlösung durch Proben, die der Erlöser bestehen muss, beiderseits steht ein Toter im Hintergrund. Bei Andersen aber greift dieser unmittelbar in das Erlösungswerk ein: er vollzieht es eigentlich, der Held braucht ihn nur wirken zu lassen. Bei Spitteler ist es gerade der Kult am toten Gemahl, der die Witwe im Banne hält. Hermes vollbringt die Erlösung aus eigener Machtvollkommenheit. Der Tote nimmt innigen Anteil, ohne selber ein-greifen zu können und zu wollen. Die Transposition – wenn es sich überhaupt um eine solche handelt, denn sowohl das Erlösungs- wie das Totenmotiv sind sehr häufig in der Märchenliteratur, und Andersen hat hier selber aus der Ueberlieferung geschöpft – ist sehr aufschlussreich: Spitteler hat das Motiv aus dem Bereich von Märchenmagie und einfacher Moral in den Bereich der grossen Persönlichkeit hinaufgehoben, die den eigentlichen Raum seines Epos darstellt. Hermes ist weder ein Zauberer noch ein gutmütiger Mensch wie Johannes – er ist wesentlich zum Erlöser berufen. Der ganze Abstand zwischen der mehr oder weniger volkstümlichen einfacheren Form des Märchens und der hohen Kunstform des Epos tritt auch hier zutage.

Mit diesem Ineinander von Uebernahme und Verwandlung, Anklang und Gegensatz ist der Bereich der Gemeinsamkeiten zwischen Andersens und Spittelers Werk umschrieben. Die deutlichsten Beziehungen halten sich im Rahmen der freilich ganz erstaunlichen Wandelbarkeit und Abbaufähigkeit dichterischer Einzelmotive, sie finden sich vor allem dort, wo Spitteler sich zu tieferem Flug herbeiliess und sind daher in den sogenannten Zwischen- und Lernwerken häufiger als in den grossen epischen Zusammenhängen. Dort versucht der Epiker, sich auf den mittleren Ton der Zeit zu stimmen und die damals gepflegten Formen zu pflegen, nachdem das hochgemute Erstlingswerk auf völlige Verkennung gestossen war. Es ist nur natürlich, wenn er dabei gerade in Andersens Ton, den er in seiner Jugend geliebt hatte, einzufallen scheint. Die zahlreichen diffusen Anklänge aber, die sich über diesen engeren Bereich hinaus namhaft machen lassen, zeigen bei allen Gegensätzen doch, wie tief die Wirkung Andersens sich in die unbewussten Ströme von Spittelers werdender Künstlerpersönlichkeit eingesenkt haben muss und wie unauflöslich seine dichterische Welt bei allem Unabhängigkeitsstreben mit gewissen Grundstrukturen seines Jahrhunderts verbunden bleibt.

 

Anmerkungen

  1. ^ Gesammelte Werke (= GW), VI 218.
  2. ^ GW VI 167 ff. Vgl dazu Gottfried Bohnenblusts reichen Kommentar GW X2 158 ff.
  3. ^ Josef Otto Widmann (1816-73), der Vater Joseph Viktor Widmanns.
  4. ^ Sophie Brodbeck-Ernst, spätere Frau J. V. Widmanns (1836-1911).
  5. ^ Erstfassung der „Neuen Zürcher Zeitung“, 9. August 1890.
  6. ^ GW III 661.
  7. ^ 1831-96. Vgl. dazu Karl Schwarbers Darstellung von Ambergers Beziehungen zu Andersen im „Basler Jahrbuch“ 1942 und Bohnenblusts Kommentar zum „Entscheidenden Jahr“ GW X2 173 ff.
  8. ^ Ambergers Briefe an Andersen liegen in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen.
  9. ^ Tagebuchzitate nach dem handschriftlichen stenographischen Original im Spitteler-Nachlass der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
  10. ^ Vgl GW VI 441 ff. „Die Musik mein Zuchtmeister“.
  11. ^ „Puber“ GW III 680. Vgl. in Werner Stauffacher Carl Spittelers Lyrik S. 193 ff.
  12. ^ GW III 581.
  13. ^ „Die Algebristen“, GW III 193 ff.
  14. ^ GW III 644.

 

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- Anderseniana - H.C. Andersen

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