[1]Der Märchendichter kam mit der Eisenbahn. Es war Donnerstag, 9. August 1855. Hans Christian Andersen (1805-1875) und sein Reisegefährte, der neunzehnjährige Edgar Collin, Neffe seines Freundes Edvard Collin, hatten, von München kommend, in Ulm im Goldenen Hirsch übernachtet. Andersen notiert für den Morgen: Magenschmerzen. 11 ½ Uhr sind sie in Ulm abgefahren. Er hält als Reiseeindruck im Tagebuch fest: »Den ganzen Weg malerische Berge, mit Wald und Ruinen, dann wurde die Landschaft ein einziger Küchengarten mit Mais und Obstbäumen, grünen Weinbergen. – Halb drei kamen wir nach Stuttgart, wo wir ins Hotel Marqvard zogen, trafen beim Abendessen eine holländische Familie, die den dänischen Dichter kannte; auf der Post Brief vom Herzog von Weimar, der gerade morgen nach Wildbad kommt und mich bittet, ihn dort zu besuchen; Brief von Jette [Collin], in Wildbad, die sich über mein Kommen freut. Sah das Schloß und das Alte Schloß von außen, auf dem Platz steht Schillers Statue von Thorvaldsen.«
Andersen, kein anderer Autor seiner Zeit ist so viel unterwegs, war auf einer der neunundzwanzig Auslandsreisen seines Lebens. Am 28. Juni aufgebrochen, war er über Kiel, Altona, Berlin nach Dresden gereist. In Maxen war ihm ein Stück Zahn abgebrochen. Auf der Nürnberger Burg hat er mit König Max gespeist. Zurück führte die Reise über Karlsruhe, Schaffhausen, Zürich, Frankfurt, Kassel. Schon ein langer Halt des Zuges in Erfurt versetzte ihn in Schrecken: in Erfurt herrschte die Cholera. Wieder in Dänemark, hörte er, daß sie auch in Kopenhagen ausgebrochen war. Am 30. September, mit dem Mittagszug von Roskilde, kehrte er zurück. »Im Magen keine Schmerzen«, notiert er unter den ersten Eindrücken im Tagebuch.
1855 war Andersen fünfzig Jahre alt. Als Autor hatte er sich durchgesetzt, nicht zuletzt dank des Echos in Deutschland. 1838 war sein Roman »Nur ein Geiger« in Braunschweig erschienen, von 1843 bis 1846, damit lange vor der dänischen, eine achtbändige Ausgabe Gesammelte Schriften. Dennoch erlaubte sich der dänische Dichterfürst Adam Oehlenschläger über Andersen am 27. Februar 1843 an seinen Schwiegersohn zu schreiben: »Aber das Kind sollte sich nicht selbst zum Mann aufblasen, denn das wird es doch nie.« Seit 1847 erschienen in Leipzig die vom Verfasser besorgten Gesammelten Werke. Sie wachsen auf fünfzig Bände; 1872 schließt er sie ab.
Schön war er nicht. Ludwig Uhland und Frau haben Oehlenschläger in Kopenhagen besucht. Oehlenschläger berichtet darüber am 16. August 1842 seiner Tochter: »Sie insbesondere war so schwäbisch, daß ich ihre sparsamen Antworten immer erst zweimal hören mußte, um sie ins Hochdeutsche zu übersetzen.« An einer der Begegnungen nahm Friedrich Hebbel teil. Er hält, es ist der 16. Januar 1843, im Tagebuch fest: »Uhland – ich bin gewiß sein Freund – sieht aus, als ob ein großer Geist in Verlegenheit um einen Körper und aus Angst zu spät zu kommen, eine Schusterseele zurückgedrängt und sich durch einen Raub vor der Geburt ins Leben hineingeschlichen hätte… Später, nachdem ich wieder mit Oehlenschläger allein war, kam der Dichter Andersen. Eine lange schlottrige lemurenhaft-eingeknickte Gestalt mit einem ausnehmend häßlichen Gesicht.« Eduard Devrient, später Hoftheaterintendant in Karlsruhe, notiert nach einer Begegnung in Dresden am 25. Februar 1846: »… zu Tisch mit Andersen, einem langen hageren Mann mit langer Nase, tiefliegenden Augen, kränklich sentimentaler Miene.«
Wie gut sprach Andersen Deutsch? In seinem »Märchen meines Lebens ohne Dichtung«, 1847, findet sich als früher Beleg: »Ich begleitete zuweilen meine Eltern in das Theater, wo die ersten Vorstellungen, die ich sah, in deutscher Sprache waren.« Später, der Vater ist aus einem kurzen kriegerischen Abenteuer als Freiwilliger in den napoleonischen Kriegen zurückgekehrt, berichtet er: »… ich tändelte wieder mit meinen Puppen, spielte Komödie und immer auf deutsch, denn nur in dieser Sprache hatte ich dergleichen gesehen, aber mein Deutsch war ein Kauderwelsch, welches ich selbst zusammensetzte, und worin nur ein einziges richtiges deutsches Wort vorkam, nämlich »Besen«, ein Wort, welches ich aus den verschiedenen Redensarten, die mein Vater von Holstein mit nach Hause gebracht, aufgeschnappt hatte.« An Edvard Collin schreibt er am 2. Juli 1844 aus Altenburg in Thüringen: »Hier in der Diligence rieten alle, ich sei ein Norddeutscher. Niemand glaubte, ich sei ein Fremder, und sie sagten, ich spräche ausgezeichnet Deutsch. – Sie lachen. Ja, in Dänemark lacht man ja immer.« Devrient spricht in der Notiz vom 25. Februar 1846 davon, daß Andersens »mangelhaftes Deutsch« den Stücken, die Andersen vorgelesen, »großen Reiz« gegeben; am 19. September 1860, nun in Karlsruhe, nach einer Lesung: »Im Detail und nordischer Stimmung und Innerlichkeit interessant, begünstigt von seiner Unbehilflichkeit im Deutschen.« 1855 war der Stuttgarter Bahnhof gerade neun Jahre in Betrieb, seit fünf Jahren konnte man von Ulm nach Stuttgart fahren. Die Bahn neckarabwärts endete in Heilbronn. Für Stuttgart mochte noch gelten, was Emanuel Geibel am 21. Oktober 1843 an Justinus Kerner geschrieben hat: »In Stuttgart kann man leben wie auf dem Lande und hat doch alle Anregungen einer Residenz nahebei: vielfach lebendigen Umgang, Musik, Theater.« »Verdammtes Kloakenthal!« schreibt Lenau am 17. Mai 1844 an Sophie Löwenthal. »Emilie [von Reinbeck] will es nicht gelten lassen, daß die Stuttgarter Luft nichts als die Ausdünstung des Teufels sei.« Bocksledern findet Alexander Graf von Württemberg, im Brief vom 29. Dezember 1841 an Kerner, die Stadt. Stuttgart war noch nicht auf die Hänge gewachsen. Das Museum der Bildenden Künste an der Neckarstraße war zehn Jahre zuvor eröffnet worden, das Kronprinzenpalais am Schloßplatz vor fünf Jahren fertiggestellt, der Königsbau wurde das Jahr darauf begonnen, das Hotel Marquardt, »der bis in unsere Zeit erste und vornehmste Gasthof« (Gustav Wais), soeben aus der Königstraße 35 ins ehemals Gaugersche Kaffeehaus, Königstraße 22, Ecke Schloßstraße, neben den Bahnhof gezogen. König Wilhelm I. war vierundsiebzigjahre alt.
Freitag, den 10. August, notiert Andersen: »Regenwetter, suchte herum nach Häuf, der in die Rothengasse 6 gezogen ist. Die Frau traf ich, er war fort; ging mit Edgar zu Wolffgang Menzel, der empfing uns freundlich, fand, daß Oehlenschläger zu viel von unserer Zeit in die nordischen Sagas mischte, stellte mich, als Dichter, über ihn… Nicht ganz wohl! Langweilte mich.«
Am 11. August reisen Andersen und Edgar nach Wildbad. »Ganze Nacht im stärksten Schweiß, wie ein Dampfbad, mußte mich völlig umkleiden; mit der Diligence gereist, im Coupe… in Calv schlechtes Mittagessen.« Die Ulme im Kloster Hirsau wird vermerkt: »(Uhland hat ein Gedicht darüber geschrieben) … es wurde halb sieben, ehe wir Wildbad erreichten, das keinen guten Eindruck auf uns machte; im »Belvue« kriegten wir ein schlechtes Zimmer, eine Art Rumpelkammer, Aussicht gegen eine Kloake, und die Luft voll warmen Essengeruchs, das Bett mit zu kurzen Laken, hart und wie zubereitet von einem Troll, der uns foppen will.« Andersen ist wütend. Damit enden die Klagen für Wildbad. Hier kennt man ihn: »Andersen ist der größte Diplomat! sagte Graf Beust, und der Großherzog bekräftigte es.« »Eine der Damen hier hatte schon acht Tage voraus Plätze reserviert, um an der Table d’Höte in meine Nähe zu kommen, aber der Kellner begünstigte eine andere Familie; mehrere Badegäste suchten meine Bekanntschaft.« Inzwischen haben Edgar und er zwei Zimmer erhalten. »Ein kleines Mädchen brachte mir ein Bouquet; ich spazierte auf und ab im Saal mit dem Großherzog.« Beim Tee, »wo wir nur ein kleiner Kreis waren,« las er »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« und »Das häßliche Entlein« vor. »Ich war unbestritten Salonlöwe«, notiert er für die Soiree im Badesaal am Abend des 13. August.
An diesem 13. war er beim Großherzog zu Tafel geladen »mit Schillers ältestem Sohn, der ist Baron«. Karl Friedrich Ludwig Schiller (1793-1857), seit 1817 im württembergischen Forstdienst, seit 1845 Freiherr, verehrt ihm das »ähnlichste Porträt des Vaters«. Andersen hält im Tagebuch fest: »erzählte, daß er rote Haare hatte.«
Am Abend des 14. reiste der Großherzog nach zweitägigem Aufenthalt, am 15. brechen Andersen und Edgar auf. Samstag, 25. August, überqueren sie, von Zürich kommend, von Romanshorn nach Friedrichshafen den Bodensee. Zu Mittag aßen sie am Sonntag in Ulm. Die Bahnstrecke Friedrichshafen-Ulm war seit 1850 durchgehend in Betrieb. Über Stuttgart fuhren sie nach Heilbronn, zogen in den Falken. Montag leidet Andersen unter heftiger Diarrhoe, muß bis Mittag liegen bleiben. Der Wirt fragte nach dem Beßnden, »so inquisitorisch, daß ich den Eindruck hatte, er hielt mich für einen krankheitsbringenden Gast.« Dienstag fuhren sie mit dem Dampfschiff nach Heidelberg weiter.
»Häuf«, den Andersen in der Rotestraße 6 hatte aufsuchen wollen, ist Hermann Hauff (1800-1865), der ältere Bruder des Dichters, Redakteur des Cottaschen »Morgenblatts für gebildete Stände« von 1827 bis zu seinem Tod 1865. Der in Schlesien geborene Wolfgang Menzel (1798-1873) lebte seit 1825 in Stuttgart, wohnte Kasernenstraße 10, gab von 1826 bis 1849 das »Literaturblatt« zum »Morgenblatt« heraus, von 1852 bis 1869 ein eigenes »Literaturblatt«. Die Begegnung mit Andersen hat sich in Menzels posthum veröffentlichten »Denkwürdigkeiten« in einem einzigen Satz niedergeschlagen, dem Schlußsatz eines Kapitels von fünfundvierzig Seiten »Literaturblatt. Verkehr mit Dichtern«: »Auch der romantische Däne, der bekannte Dichter Andersen, besuchte mich in Stuttgart.«
Sollten Hauff und Menzel zu Cotta vermitteln? Am 11. August 1843 hat Andersen an Jonas Collin geschrieben: »Insbesondere Kobbe in Oldenburg hat mir versprochen, eine Verbindung zwischen mir und dem Haus Cotta herzustellen.« Theodor Kobbe, Kriminalgerichtsassessor, Jagdjunker, humoristischer Autor, starb 1845. Im Cotta-Archiv, überhaupt in den Marbacher Beständen, sind nur drei Briefe Kobbes aus den Jahren 1838/39 erhalten; darin ist von Andersen noch nicht die Rede.
Eduard Mörike lebte damals in Stuttgart. Den Daten nach ist er wie kein anderer Dichter Andersens Zeitgenosse: Knapp sieben Monate vor Andersen geboren, stirbt er auf den Tag zwei Monate vor ihm. Mörike kommt in Andersens Tagebuch so wenig wie in dem Lebensbriefwechsel mit den Collins vor. 1855 waren Mörikes Hauptwerke, bis auf »Mozart auf der Reise nach Prag«, erschienen. Über Uhland hinaus scheint Andersen von den schwäbischen Dichtern nicht Kenntnis genommen zu haben. Auf der Schwäbischen Dichterschule lag Heines Verdikt im »Schwabenspiegel«, 1838. Heine war einer der geistigen Väter des jungen Andersen. Heine hatte Uhland ausdrücklich als »großen Dichter. … in so kläglicher Gesellschaft« ausgenommen. Umgekehrt erwähnt auch Mörike Andersen nicht. Mörike wohnte seit dem Januar 1854 in der Alleenstraße 9. Tochter Fanny wird am 12. April 1855 geboren. Für den 12. bis 17. August berichtet Hans-Ulrich Simons »Mörike-Chronik« den Besuch Hartlaubs. »Sie diskutieren auch den kleinen Bekanntenkreis M’s und die zögernde Annahme seiner Schriften unter den Lesern.« Am 15. und 16. August ist Storm zu Gast; Storm ist drei Jahre zuvor, weil er sich zur Schleswig-Holsteinischen Volksbewegung bekannte, von den Dänen seiner Advokatur enthoben worden, 1853 aus seiner Heimat emigriert.
Fünf Jahre später kommt Andersen noch einmal nach Stuttgart. Montag, den 24. September 1860, heißt es im Tagebuch: »Herrliches Wetter! 8 1A Uhr von Karlsruhe abgereist,… kam 12 Uhr nach Stuttgard und zog zu Buchhändler Hoffmann, aber fühlte mich nicht augenblicklich wohl, wollte gerne fort und ins Hotel, Amberger [der Reisegefährte dieses Stuttgartbesuches] sah darüber recht unglücklich aus… Beim Mittagstisch gemütlich, die Frau im Haus so herzlich, beschlossen zu bleiben… Wohlhabend wie die reichsten Bürger es haben könnten, ist es hier, ein schmucker Wintergarten im Haus, Gasbeleuchtung und gute Gemälde.«
Am 26. Mai war Andersen in Kopenhagen aufgebrochen. Diese Reise führte ihn über Meiningen, Nürnberg, Regensburg nach München. In Oberammergau sah er das Passionsspiel. Über Kempten, Lindau, Zürich fuhr er nach Brunnen, Luzern, Le Locle. Nach Stationen in Montreux und Genf hielt er sich in Basel einige Tage auf. In Karlsruhe blieb er zwei Nächte. Von Stuttgart ist er dann noch einmal nach München gefahren; König Max empfing ihn, in Dresden König Johann. Über Berlin kehrte er nach Dänemark zurück, erreichte Odense am 9. November. Am 23. November trifft er in Kopenhagen ein. »Meine Ankunft steht heute abend in Berlings Avis«, notierte er an diesem Tag als letztes.
In Basel war Andersen am 16. September eingetroffen, in den Drei Königen abgestiegen: »Ein Zimmer gegen den Rhein, besonders schöner Blick, ich konnte mich nicht losreißen.« Der Landschaftsmaler Gustav Adolph Amberger (1831-1891), den er in Brunnen kennengelernt hatte, holt ihn zu Freunden. Amberger zieht für diese Tage mit dorthin. Amberger zeigt ihm Basel. Am 18. September, nach einem Besuch in Ambergers Atelier, notiert Andersen: »Amberg teilte mit mir Lorbeerblätter von Schillers und Goethes Sarg, von der Hundertjahrfeier [von Schillers Geburtstag], verehrte mir sein Bild, Fotografie. Er hatte ein Brieftelegramm von dem wohlhabenden Buchhändler Hoffmann in Stuttgart bekommen, mit Einladung, während meines Aufenthaltes dort bei ihm zu wohnen. Amberger reist mit und bleibt dort solange ich bleibe.« Andersen zog im Brief vom 3. Oktober 1860 aus München an Edvard Collin eine Zwischensumme der Reise, darin charakterisiert er Amberger: »Mein junger Freund, Amberger heißt er, und von Tüchtigkeit, dazu in der letzten Zeit berühmt dadurch, daß er in der Bude eines Händlers das früheste und ähnlichste Porträt Schillers entdeckt hat.« (Im Kommentar zum Briefwechsel Andersens mit Edvard und Henriette Collin steht dazu: »Das Bild… ist heute im Schillerhaus in Weimar. Auf der Rückseite trägt es die Inschrift »Mein Schiller, Mannheim 1786«. Es soll Charlotte von Kalb gehört haben.«) »Hoffmann und Cotta sind die beiden bedeutendsten Buchhändler in Württemberg und führen jeder haus, wie wahre reiche Leute… Ich kam hier in ein Haus so liebenswürdig, so reich und doch so schlicht und gut, daß Sie sich dort recht wohl gefühlt hätten.« Am Dienstag, 19. September, bestellt er neue Kleider. Am 20. notiert er unter den Besuchern: »Fräulein Kestner, Lotte Werthers Tochter.« Am 21. liefert der Schneider. Samstag, den 22., »vor acht«, fuhren Amberger und er.
Carl Hoffmann (1802-1883), Andersens Stuttgarter Gastgeber, gründete am 18. Juni 1826 die spätere Hofbuchhandlung. 1826 ist das Erscheinungsjahr von Wilhelm Hauffs »Lichtenstein«, Hölderlins Gedichten, Eichendorffs »Taugenichts«, Waiblingers »Drei Tage in der Unterwelt«. Julius Weise, dessen Name die Buchhandlung seit 1844 trägt, ist der Schwager Hoffmanns. Hoffmanns Verlag war in der Rotebühlstraße 77, heute die Anschrift von Klett-Cotta. Hoffmann hat dort auch gewohnt. Seine Frau Elisabeth, genannt Lisette, geborene Hoff, lebte von 1801 bis 1863. Einige jahre nach ihrem Tod hat Hoffmann seinen Verlag verkauft und einen großen Teil von Bad Teinach erworben; er lebte dann dort. Die Familienüberlieferung berichtet, Andersen habe »winzige Sträuße Gänseblümchen im Hoffmann’schen Garten gepflückt und sie – etwas affektiert – den Damen überreicht«. Bedarf dies der Bestätigung? Die nächstliegende gibt eine Notiz der Stuttgarter Tage, 1. Oktober: »Aus Blumen einen Vogel gemacht.«
Andersens erster Besuch in Stuttgart, Dienstag, den 25. September, gilt Kammerherrn von Gail, »der mit seiner Frau mich herzlich aufnahm, mich in seine Loge einlud«. Auf diese Einladung wird es Andersen angekommen sein. Andersen war Theaterautor; er hat, wie wohl kein zweiter, auf seinen Reisen fast alle bedeutenden Theater besucht. Bente Hatting Gjelten, die dem Theaterkenner Andersen nachgegangen ist, weist daraufhin, daß sich der Kontakt zum Theater wie ein roter Faden durch die Tagebücher ziehe: »Verliebtheit -die oft eine unglückliche und unerwiderte Liebe war – in Frau Thalia, war die alles überschattende Leidenschaft sein Leben hindurch.« Freiherr Ferdinand von Gail (1809-1872) war Hoftheaterintendant, bemühte sich um das Zustandekommen des Deutschen Bühnenvereins und war dessen Präsident. Devrient notiert am 17. Dezember 1855 – es ist Devrients Ergebnis einer Besichtigung des Stuttgarter Hoftheaters: »Der gute Baron ist eben doch ein flauer Geselle und etwas Rechtes und Durchgreifendes von ihm nicht zu erwarten.«
»Das Theater groß und schmuck«, ist Andersens Urteil, »4 Etagen.« Er sieht am 26. September »Ein Lustspiel« des Vielschreibers Julius Roderich Benedix. »Vortrefflich spielte der alte Maurer, Löwe war auch gut; das Stück langweilte mich, da war ein Zug und Kälte in der großen Loge, daß ich nach dem 3. Akt ging.« Tags darauf hat er heftigen Schnupfen, fährt aber zum Volksfest, am Abend wieder ins Theater, »das aus Anlaß von Königs Geburtstag festlich beleuchtet war. Alle in Pracht und Staat. Der König wurde empfangen mit Hurraruf. Man gab die Oper Tittus,... keine merkwürdige Vorstellung. .. ½ 9 war die Vorstellung aus, ich fror und war matt.« Das Theater hatte seit dem Umbau 1846 Gasbeleuchtung. Zu Hause aß er noch, bekam warmen Punsch und in sein Bett zwei leichte Federbetten. Sonntag, den 30., ist Andersen wieder aufs Volksfest gefahren. »Wir saßen in der Sonne, so daß ich Kopfschmerzen davon hatte.« Rückfahrt durch Gedränge.
Im Brief vom 18. Oktober aus Dresden an Henriette Collin faßt er zusammen: »Bei Stuttgart habe ich das große-Völksfest in Cannstadt gesehen, das soll inzwischen von deren Oktoberfest auf der »Theresien Wiese« (vor der Bavaria) übertroffen werden, das war unterdessen nicht der Fall; hier war ein unendliches Menschengewimmel, aber nicht das Volksleben wie in Würtemberg.«
Wie zuverlässig schildert Andersen so etwas? Sehr zuverlässig! Ein Vorfall an jenem 30. September erlaubt der Vergleich. Der Tagebucheintrag über diesen Völksfestbesuch lautet vollständig: »…aber ich war nach Canstädt hinausgefahren, dort war Volksfest und großer Zirkus. Wir saßen in der Sonne, so daß ich Kopfschmerzen davon hatte. Beim ersten Lauf sprang eines der Pferde über die Barriere, der Reiter fiel herunter und lag wie tot und wurde so weggetragen; es wurde nach einem Arzt gerufen, mich griff das sehr an, der Mann erholte sich unterdessen un ritt die Bahn rund…« Den Vorfall berichtet die Schwäbische Chronik Nr. 233 vom Dienstag, den 2. Oktober (Seite 1868): »Cannstatt, den 1. Okt. Gestern und vorgestern Nachmittag haben die Circusdirektore Hüttemann und Suhr Wettrennen gegeben, welche so besucht waren, daß bei mäßigen Eintrittspreisen beim ersten Rennen eine Einnahme von mehreren tausend Gulden gemacht wurde. Am Samstag erlitt ein Pferd einen Fesselbruch, es mußte todtgestochen werden. Am Sonntag stürzte ein Reiter, der weggetragen werden mußte; er erholte sich jedoch so schnell, daß er etwa zehn Minuten nach dem Sturze wieder zu Pferde saß«.
Er will Hackländer besuchen, trifft den nicht an. Drei Tage darauf versucht Hackländer ihn zu besuchen. Am 1. Oktober begegnen sich die beiden. Suchte Andersen über Hackländer den Zugang zum Hof, den er anders nicht gefunden hat? Friedrich Wilhelm Hackländer (1816-1877) war nicht nur der berühmte Autor. Wilhelm I. hatte ihn das Jahr zuvor zum Bau- und Gartendirektor ernannt. Die Umgestaltung des Schloßplatzes 1866 hat Hackländer angeregt. Hackländer verehrt Andersen seine Fotografie. Beide Male, die Andersen im Theater ist, sind auch Prinz von Weimar und Gemahlin zugegen. Der Prinz ist Schwiegersohn des Königs.
Er kennt ihn vom Weimarer Hof. An Königs Geburtstag führt Gail Andersen ins Foyer, »wo die in Gala gekleideten Herren und Damen sich bewegten. Der Prinz von Weimar und Gemahlin sahen mich, aber schienen mich nicht zu kennen.« Mit Amberger gibt es eine Verstimmung. »Ich verstehe ihn nicht, der Duft der Hingegebenheit für mich scheint verdunstet. Was ist los. Ist es, weil ich heute abend in die Loge gehe und er nicht mit…«; Versöhnung einige Tage später unter Tränen. Irgendwo steht zwischen anderem der Satz: »Zu Hause sah ich, wie sie Most preßten«, dem voraus: Wie er vom Besuch bei Herrn von Gail heimgeht und durchs Alte Schloß, »fragte ich einen Herrn, lang und mager, wo ich Schillers Statue von Thorvaldsen fände, er zeigte mir das, aber ich sah im selben Augenblick alle Lakaien im Schloß sich vor ihm erheben und grüßen, das war Graf…, Sohn des Königs, verheiratet mit einer Prinzessin, den ich zum Führer gewählt hatte.«
Und Mörike? Sollte im Haus des Verlegers und Buchhändlers Hoffmann der Name nicht gefallen sein? Mörike wohnt inzwischen in der Militärstraße 51. Ein Besuch hätte sich verboten: Am 25. Juli war Mörikes Schwiegermutter endgültig bei Mörikes eingezogen. Am 29. September starb sie, am 2. Oktober wurde sie begraben.
Am 2. Oktober reiste Andersen. »Stammbuchblätter geschrieben. Bei Tisch tranken wir württembergischen Champagner, ich wurde herzlich eingeladen, nächstes Jahr zu kommen… Bei der Abreise waren sie alle bewegt. Amberger und Hoffmann begleiteten mich zum Bahnhof. Da war eine Unruhe über mir; ich fuhr weg von den lieben zwei Freunden.« In Augsburg übernachtete er in den Drei Mohren: »Ich erbrach mich. Ob das der Apfel war, den ich gegessen hatte oder der Champagner zu Mittag.« In München wird ihm das Portemonnaie aus der Tasche gestohlen. »Ich konnte nicht einmal den Träger fürs Tragen meiner Koffer bezahlen.« »Brief an Edvard Collin«, beginnt der Tagebucheintrag des 4. Oktober. Es ist der Brief vom 3. Oktober. Andersen kommt aus einer »Fidelio«-Aufführung und hat sich zum Schreiben gesetzt: »… ich denke an die Lieben zu Hause und an alle die Segnung hier draußen, die unser Herr mir vergönnte, ich will auch dem Dieb die 6 Taler gönnen und zufrieden sein… Es ist mir wirklich gelungen, der berühmteste Däne zu werden, die Reise hat mich davon überzeugt… Hoffmann bat mich, ihm ein Werk in Verlag zu geben: Mein Porträt kommt in sein »Buch der Welt«, das ist die am meisten verbreitete Schrift in Deutschland. Welches Honorar ich immer will, er gibt es mir, war sein Wort, bekomme er nur ein Märchen von mir… Sie schreiben, daß ich einmal in Deutschland eine Demonstration machen solle, indem ich die Stube verlasse, wenn etwas gegen Dänemark gesagt wird. Das werde ich unbedingt tun, aber so etwas habe ich noch nie gehört; man gibt uns immer recht und hier bei Hoffmann war eine große Dänenfreundschaft und Erkenntnis der »Lügen in den Zeitungen«. Ja, eines Abends sprach Professor Stahr von Berlin so anerkennend und so schön in Hofmanns Haus, daß ich Tränen in die Augen bekam.«
1861 erscheint das »Schiller-Album der Allgemeinen deutschen NationalLotterie zum Besten der Schiller- und Tiedge-Stiftungen«. Zwanzig bis dahin unveröffentlichte Schriftstücke Schillers leiten es ein. Dem folgen, angeführt von einem Gedicht König Johanns von Sachsen, vier Gedichte König Ludwigs von Bayern, dann alphabetisch von Arndt, Ernst Moritz, bis Zedlitz, J. C. Freiherr von, die Beiträge von dreiundsechzig Verfassern. Andersens ist »Die alte Kirchenglocke«, der einzige Beitrag eines Dichters nichtdeutscher Sprache, sein Schillermärchen. Der Beitrag ist für einen Dänen nicht zufällig. Schiller hatte 1791 das dänische Stipendium erhalten. Der »dänische Wieland« Jens Immanuel Baggesen (1764-1826) hatte unermüdlich für Schiller als »einen der ersten Erzieher der Menschheit« geworben. Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« sind an den Herzog von Augustenburg gerichtet. Der Beitrag ist erst recht für Andersen nicht zufällig. Im Februar 1846, in Jena, hatte die »alte Frau von Wolzogen«, Schillers Schwägerin, (Andersen berichtet zuvor, daß sie einander um den Hals geflogen) »ein Stück aus Schillers Manuskript von Wilhelm Teil« geschnitten, »damit ich seine Handschrift hätte.« 1866 verzeichnet er in einem Brief an Dorothea Melchior unter den Weihnachtsgeschenken: »außerdem eine kleine Büste von Schiller«. Der Beitrag ist die Frucht lebenslanger Schillerverehrung. Freilich ist diese Verehrung nicht ohne Seitenblick: In der Galerie auf Ettersburg bei Weimar findet er 1865 seine Büste unter denen von Goethe, Schiller, Herder, Wieland – der Enkel Goethes macht ihn darauf aufmerksam -, seine gar, wie er Edvard Collin am 26. Juni berichtet, auf dem »allzu ehrenvollen Platz zwischen Wieland und dem verstorbenen Großherzog«. Sein Brief an Collin vom 11. Februar 1846 schließt: »Es ist im übrigen komisch, wie die Leute in Weimar zwischen mir und Schiller Gleichheit finden wollen.« Am 12. März 1866 berichtet er Collin aus Amsterdam, daß er sich beim »ersten Fotografen der Stadt« habe fotografieren lassen: »Das im Profil frappiert alle wegen der Gleichheit mit Schillers Porträt, etwas, was Schillers Familie in Weimar auch hervorgehoben hat.«
Im Märchen ist Schiller rothaarig, sommersprossig, was er wirklich war; keines der Porträts gibt Schiller so wieder! Er dichtet Schiller eine ärmere Jugend an als sie war, der Parallele zu Thorvaldsen wegen – und meint doch wiederum sich. Johann Christoph (Friedrich) Schiller – Hans Christian Andersen: das stimmt sogar fast in den Vornamen überein. Eines stimmt nicht: das Denkmal wurde nicht hundert Jahre nach Schillers Geburtstag, sondern schon 1839 enthüllt.
Mörike ist in dem Album mit seinem Gedicht »An Karl Wolf« vertreten: »Seltsames wird von Hermippus, dem römischen Weisen, dem Pfleger/ Weiblicher Jugend, erzählt,…« Hier, zwischen den beiden Buchdeckeln, sind sie vereint.
Bedarf es schließlich eines letzten Beweises dafür, wie genau Andersen auffaßt und wiedergibt? Sein Märchen beginnt: »Im schönen Lande Würtemberg, wo die Akazien so lieblich auf der Landstraße blühen…«. Hierzulande weiß doch eigentlich jeder, daß die Landstraßen bis in unsere Jahrhunderthälfte von Obstbäumen gesäumt waren, ein Verdienst von Schillers Vater, aus der Zeit, als er den herzoglichen Baumschulen auf der Solitude Vorstand. Und Andersen hat Akazien gesehen? Er hat sie gesehen! Den literarischen Beleg dafür gibt es an berühmter Stelle, in Hermann Hesses Roman »Unterm Rad«: Hans Giebenrath und seine Freunde brechen von Calw zu dem verhängnisvollen Sonntagsausflug auf »durch die fast entblätterten Ahorne und Akazien der Straßenalleen wärmte eine milde Oktobersonne herab«. Das ist etwa 1885. Diese Alleen hat Andersen auf dem Weg nach Wildbad am 11. August 1855 durchfahren.