»Doktor Faustus und dieses Buches Held, Adrian Leverkühn«, lautet Thomas Manns Antwort auf die Frage, welches seiner Bücher ihm das liebste sei.[1] Im folgenden wiederholt er dann das schon in Die Entstehung des Doktor Faustus gemachte Geständnis, er liebe diesen Adrian mehr als irgend eine andere seiner »Imaginationen«, mehr noch, als den Goethe von Lotte in Weimar. »Ganz vernarrt« sei er in Leverkühns »’Kälte’, seine Lebensferne, seinen Mangel an ’Seele’, dieser Vermittlungs- und Versöhnungsinstanz zwischen Geist und Trieb«, in sein »’Unmenschentum’ und ’verzweifelt Herz’, seine Überzeugung, verdammt zu sein«.
Der Faustus-Roman ist bekanntlich ein Nietzsche-Roman: er umkreist die Gestalt jenes Mentors, welcher als heimlicher Beziehungspunkt hinter Thomas Manns Werken steht, von dem Tage an, da dieser als Neunzehnjähriger mit Nietzsches Denken Kontakt nahm. Zum Thema Thomas Mann und Nietzsche ist viel – auch vom Dichter selbst – gesagt worden. Wenig Aufmerksamkeit erhielt jedoch eine andere, im Doktor Faustus leibhaftig gewordene Gestalt, die ebenfalls seit frühester Zeit in das Erzählwerk Thomas Manns hineinspielt: Andersens kleine Seejungfer. Ihr „Mangel an Seele”, ihr „Unmenschentum”, ihre Sehnsucht nach Teilhabe am menschlichen Glück, das ihr vom dämonischen Bereich auferlegte Schweigen, ihre physischen Schmerzen, ihr „heilloser Weg zum Heil” machen sie zur rechten Leidensgenossin Adrian Leverkühns, zu seiner „Schwester in der Trübsal”[3] und ihren Weg zum Paradigma des Lebensweges der Thomas Mannschen Helden überhaupt. Die Hinweise auf das Märchen von der Menschwerdung der kleinen Seejungfer gerade im Nietzsche-Roman überraschen nicht, wenn man bedenkt, daß die Märchenlektüre früher anzusetzen sein dürfte, als die von Schopenhauer oder Nietzsche, daß Thomas Mann also schon ein Beispiel vor Augen hatte, als er über das principium individuationis belehrt wurde oder bei Nietzsche von der „großen Loslösung” aus der Gebundenheit, von der gefahrvollen Wanderschaft und der Einsamkeit des freien Geistes las.[4] Überraschen kann allenfalls, daß Thomas Mann nirgends ausführlich von Andersen oder von diesem Märchen spricht, ja, daß seine Bemerkungen zur Bedeutung der Märchenlektüre für sein Schaffen sich auf recht allgemeine Hinweise beschränken.
Im Lebensabriß von 1930 spricht er von dem „unauslöschlichen Eindruck”, den Andersens Märchen auf ihn gemacht hätten,[5] und anläßlich einer Dänemarkreise im Jahre 1929 erwähnt er den „Tonfall” der wunderbaren Märchen Andersens, der ihm „noch im Ohr” sei, die „für den dänischen Geist charakteristische Mischung aus Musikalität und Satire.”[6] Andere vereinzelte Hinweise werden gegeben, aber im Großen und Ganzen bleiben die Äußerungen Thomas Manns zu diesen Leseeindrücken im Vergleich zu anderen Huldigungen ziemlich oberflächlich. Erst der Vergleich des Thomas Mannschen Erzählwerks mit dem ihm schon in der Jugend zugänglichen Märchengut verrät, daß hier viele seiner Stoffe und Motivketten vorhanden sind, ja, daß auch seine besondere Art der Assimilation von Figuren und Motiven durch Assoziation von einem Märchenerzähler vorweggenommen wurde. Daß Thomas Manns Interesse an Märchen die Kindheit überdauerte, ist nachweisbar: Musäus’ Volksmärchen der Deutschen in der Berliner Ausgabe von 1909 wurden aufmerksam gelesen und mit Anstreichungen versehen, und sie waren wahrscheinlich noch bei der Komposition des Erwählten zur Hand;[7] für die Faszination unseres Dichters für eine einzelne Märchengestalt aber ist Andersens kleine Seejungfer die wichtigste Zeugin. Dieser Gestalt soll der größte Teil dieses Beitrags gewidmet sein, nicht zuletzt, weil Thomas Manns Assimilation ihrer Eigenarten und ihres Schicksalsweges rückwirkend einigen Aufschluß gibt über die Tragweite ihrer Bedeutung schon bei Andersen. Zuvor seien einige Hinweise erlaubt auf eine andere Märchensammlung und ihren Nacherzähler, deren Einfluß auf Thomas Manns Assimilationsverfahren in diesem Zusammenhang sicher nicht zu überschätzen ist.
Unter dem im Zürcher Thomas-Mann-Archiv erhaltenen Büchern befindet sich ein großer bebilderter Band der Märchen Perraults, nacherzählt von Moritz Hartmann.[8] Hartmanns Ziel war nicht, Märchen in „naiver Schönheit und Hoheit” abzuschreiben: bei ihm sollten sich „Orient und Occident in demselben halbironischen Licht” begegnen (S.III). Und wir meinen, den „raunenden Beschwörer des Imperfekts”, Thomas Mann, zu hören, wo Hartmann seine Methode beschreibt, Vergangenes gegenwärtig zu machen: „Da er (Perrault) zu jenen Dichtern gehört, die sich zuthunlich und umgänglich an ihre lebendige Umgebung wenden, geschieht ihm kein Unrecht, wenn man ihn ’renovirt’ und mit dem ’Gewand des Tages’ bekleidet” (S.II). Es ging Hartmann darum, „beim Leser ein neueres Märchen einzuschmuggeln, das eine andere Art von Ehrwürdigkeit besitzt, und das er als fromme Ouvertüre zu dem in Scherz und Heiterkeit gekleideten Ernst betrachten möge”, denn schließlich habe es „sein Gutes, mit etwas gehobener Stimmung selbst dem leichten Spiele entgegen zu treten” (S.III). Dazu gehört eine Zusammenschau, die ihm die Dornröschen-Gestalt als eine Wiedergeburt der Walkyre Brynhilde erscheinen lassen konnte und zugleich als die „späte Enkeltochter einer uraltarischen Göttin aus den Tiefen Asiens” (S.III). Hartmann sah seine Gestalten als Vergegenwärtigungen überall und seit Urzeiten bekannter Seinsweisen, und er bedient sich der sprachlichen Ausdrucksmittel, die einer derartigen Perspektive angemessen sind. Wie später der Nacherzähler Thomas Mann, verfahrt er recht frei mit Zitaten und vermischt altertümlich anmutende Ausdrücke mit solchen, die durch ihre Modernität auffallen. Er „renovirt” seine Vorlage tatsächlich, und zwar mit stark ironischem Effekt. Zu den frühesten Leseeindrücken Thomas Manns gehört also eine Lektüre, die mit der Identität von Figuren und in der Anwendung sprachlicher Mittel sehr eigenwillig verfährt, und die ihrem Leser das Wiedererkennen von Gestalten und einander ungefähr entsprechender Situationen nahelegt.
Auch Thomas Mann wußte sich mit seinem Werk in der Tradition verankert, und selbst wo er keiner literarischen Vorlage folgte, wie etwa dem Alten Testament oder einer mittelalterlichen Legende, verbirgt sich hinter seinen Gestalten eine Vielzahl von Prototypen. Das Vexierspiel, das sich bei Moritz Hartmann vorzeichnete und auch von diesem schon bewußt getrieben wurde, entwickelt sich bei Thomas Mann in ein schillerndes Spiel mit oft komplizierten Assoziationen, die vom zeitgenössisch-autobiographischen Bereich bis in die Frühgeschichte der Menschheit führen, wobei die Protagonisten jeweils als Manifestationen übergeschichtlicher Typen im Geschichtlichen erscheinen. Das Resultat eines derartigen Wiedererkennens ist der Eindruck, Thomas Manns Werke seien nicht nur „Bruckstücke einer großen Konfession”, sondern „Variationen eines einzigen Themas.”[9] Und das Thema? Es ist die Geschichte von Dem, der auszieht, die Geschichte von der Unruhe, Wanderschaft und Not dessen, der nicht, wie sein Bruder oder seine Brüder (oder die Schwestern) beim Vater bleiben mochte, dort, wo man sich so „hübsch zu Hause”[10] fühlte.
Die kleine Seejungfer nun, die sich aus Sehnsucht nach dem, was ihrer Art versagt ist, in die Fremde wagt, ist die Ausformung des Themas, die Thomas Mann als beispielhaft galt. Zu dieser Auffassung verpflichten vor allem drei Erwägungen: Einmal ist es diese Märchengestalt, die unverkennbar in den meisten Werken anklingt, zum anderen finden sich in den Romanen und Erzählungen Thomas Manns viele, oft fast wörtliche, Anspielungen an den Text Andersens. Wichtiger noch als diese werkimmanenten Nachweise ist die Tatsache, daß diese Mädchen-Gestalt die mythischen und literarischen Assoziationen ermöglicht, die ihre Verwandlungsfähigkeit bedingen. Dieser Beitrag wird sich mit einer begrenzten Anzahl von Beispielen zu diesen drei Aspekten begnügen müssen, dennoch wird sich zeigen, daß Andersens „havfrue” mit Hilfe Thomas Manns neu interpretiert werden kann, daß auch ihr „kein Unrecht geschah”, als er sie im Gefolge Hartmanns „renovirte.”
Die Mädchengestalten im Erzählwerk Thomas Manns, die seine Helden zur Unruhe reizen, weisen eine eigentümliche Ähnlichkeit mit Andersens kleiner Seejungfer auf. Wie diese kommen sie aus fernen Gegenden oder werden dort gefunden; wie diese zeichnen sie sich durch Kindlichkeit, einen schwebenden Gang und Schweigen aus und verwirren den Menschen durch die Sprache ihrer Augen. Der von Thomas Mann stets erwähnte kühle, weiße und schöne Arm gemahnt an ihren Meeresursprung,[11] und nur selten fehlen Musik, Tanz und der sinneraubende Trank als Motive bei ihrer Begegnung mit den zu geistigen und anderen Abenteuern bereiten Helden Thomas Manns.
Schon im Kleinen Herrn Friedemann (1894) erweist sich die Begegnung mit einer solchen Gestalt als Konfrontation des „stillen und zarten” und vollkommen ereignislosen Daseins mit dem anderen, fremden Leben, das Friedemann versagt ist. Er verfällt der seltsamen, burschikosen und freien Gerda von Rinnlingen, die zwar ,Jedes weiblichen Reizes” entbehrt,[12] deren schöne, mattweiße Arme Friedemann jedoch von Sinnen bringen. Während einer musikalischen Veranstaltung zurückgewiesen, sucht er im Wasser den Freitod.
Bei dem schönen, nackten Mädchen, welches Friedrich von der Qualen, dem durch Cognac für dergleichen Dinge rezeptiv gemachten Fremden, im Kleiderschrank (1899) erscheint, wird das Muster verdeutlicht: Sie nähert sich dem Mann, erzählt ihm traurige Geschichten, bleibt aber dabei im Türrahmen des Kleiderschranks. Jede Berührung von der Quälens läßt sie auf Tage verstummen. Manche Verkleidung muß sich die kleine Seejungfer gefallen lassen, aber sie taucht immer wieder auf. Bei einer musikalischen Soirée besiegelt Thomas Buddenbrook sein Schicksal, als er der schweigenden kühlen Musikerin aus Amsterdam verfallt; in Venedig sind es die Blicke des mädchenhaften Tadzio, die den reisenden Aschenbach beirren, und an die Meereslandschaft des Zauberbergs fesseln Hans Castorp die Blicke der gleitenden, schweigsamen und unerreichbaren Clawdia Chauchat. Imma Spoelmann von Ubersee, (Königliche Hohheit, 1909) deren Beredtheit nichts, aber deren Augen alles Wesentliche aussagen, und welcher Vater Spoelmann „die Zunge stutzen” möchte,[13] wie auch die jungfräuliche „Herrin”, die Tempeltänzerin Mut-em-enet, Gattin Potiphars, die sich buchstäblich in die Zunge schneidet in ihrem Verlangen nach der Berührung durch das Leben (Joseph in Ägypten), sind heimliche Huldigungen der Gestalt Andersens. Wo immer das Muster anklingt, versinnbildlicht diese Gestalt den „heillosen Weg zum Heil”, den Weg, der den Verlust des Zuhauses, Einsamkeit, Schweigen und Schmerzen bedeutet. So besehen ist die Paarung Adrian Leverkühns mit der kleinen Seejungfer ein natürliches Bekenntnis zu einem von Anfang an erkannten Sachverhalt.
Für die oft überraschende Konkordanz zwischen Andersens Text und entsprechenden Textstellen bei Thomas Mann muß hier ebenfalls eine beschränkte Anzahl von Beispielen genügen:
Bei Andersen heftet sich die Sehnsucht der sonderbaren und nachdenklichen jüngsten Tochter des Meerkönigs an „die hübsche Marmorstatue” eines „herrlichen Knaben” (257).[14] Gustav von Aschenbachs Auflösung hat als Fixierpunkt einen Knaben, „so vollkommen schön, wie ein griechisches Bildwerk aus edelster Zeit”,[15] zudem erscheint Tadzio „mit triefenden Locken und schön wie ein Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer”,[16] während die Statue bei Andersen beim Stranden eines Schiffes auf den Meeresgrund gekommen war.
Die Meerhexe verspricht der kleinen Seejungfer, „Du behältst Deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann sich so leicht bewegen wie Du; aber jeder Schritt, den Du machst, ist, als ob Du auf scharfe Messer trätest, als ob Dein Blut fließen müßte” (286). In Tonio Kröger lesen wir den Satz: „Und dennoch tanzen, behend und geistesgegenwärtig den schweren, schweren und gefährlichen Messertanz der Kunst vollführen zu müssen, ohne je ganz des demütigen den Widersinnes zu vergessen, der darin lag, tanzen zu müssen, indes man liebte.”[17]
Die kleine Seejungfer fürchtet, mit ihrer Stimme alles zu verlieren: „Was bleibt mir dann übrig?” „Deine schöne Gestalt … Dein schwebender Gang und Deine sprechenden Augen; damit kannst Du die Menschen bethören” (287). Auch bei Thomas Mann ist der Blick der Augen die Sprache der stummen, in sich verschlossenen Menschen. Von der kleinen Asuncion in der Erzählung Der Tod (1897), zu der die Weite des Meeres den Hintergrund bildet, heißt es: „Sie ist eine gute Begleiterin, die schweigt und manchmal nur groß und liebevoll die Augen zu mir emporschlägt.”[18] Von den vielen anderen Beispielen sei noch Imma Spoelmann erwähnt, deren Augen „eine fließende Sprache führten.”[19] Auch eine Fischschwänzige kommt in diesem Roman vor,[20] und Imma reitet zu Pferde mit ihrem Prinzen aus.[21] Mit ihrer Pagenanmut teilt sie den ausgesprochen burschikosen Zug, der Thomas Manns Mädchengestalten anhaftet.
Die „schönen weißen Arme” der kleinen Seejungfer (289) wurden schon erwähnt, zu anderen wichtigen Einzelmotiven gehören der Zaubertrank (bei Thomas Mann Cognac, Wein oder auch Granatapfelsaft) und das „auf dem Stein Sitzen” als Ausdruck der Vereinzelung, das schon in den Buddenbrooks erwähnt wird.[22]
Auch das Ende von Andersens Märchen, die Aufnahme der kleinen Seejungfer in die Luftgeisterwelt, wo sie, „ohne Schwingen” schwebend (293) nun doch noch hoffen kann, „das ewige Glück der Menschen” teilen zu dürfen (204), auch dieses verheißungsvoll-traurige Ende läßt Thomas Mann anklingen in der Erfahrung der Befreiung aus Raum und Zeit, die seine Helden am Meer machen. So scheint es beispielsweise Gustav von Aschenbach bei seinem Tod, daß Tadzio „hinausdeute, vorausschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure”[23], und Tonio Kröger genießt an der dänischen Küste „ein tiefes Vergessen, ein erlöstes Schweben über Raum und Zeit.”[24]
Die Andersen-Forschung unterstreicht die enge Verbindung, die zwischen Andersen und seinen Gestalten besteht, und daß besonders die kleine Seejungfer der Dualität in seinem Inneren Ausdruck verleiht. So meint Elias Bredsdorff, die kleine Seejungfer spiegele Andersens wiederholte Fixierung auf ein unerreichbares Liebesobjekt,[25] auch Andersen sei ein „outsider who came from the depths and was never really accepted in the new world into which he moved.”[26] Aber Bredsdorff sah ganz richtig, daß das Märchen eine von Andersen unabhängige Bedeutung hat: „in order to appreciate it it is not necessary to identify the mermaid with Andersen, and her desire to become human with his longing to be accepted in the new world into which he had moved.”[27]
Gewiß läßt sich nicht leugnen, daß die Sehnsucht der kleinen Seejungfer, eine unsterbliche Seele zu erhalten, in Andersens Wunsch nach Ruhm und Anerkennung ihre Entsprechung findet,[28] aber wie bei den autobiographisch gefärbten Helden mit künstlerichem Temperament bei Thomas Mann, erschöpft sich ihre Bedeutung sicher nicht darin, daß sie Andersens „personlighetsstruktur” illustriert. Das Auftauchen der kleinen Seejungfer im Erzählwerk Thomas Manns als Sinnbild des Künstlers mit einem faustischen Streben nach Erkenntnissen, die den Gewöhnlichen und Braven versagt sind, muß die Interpretation dieser Gestalt aus dem autobiographischen Bereich hinausführen. Andersens persönliches Dilemma, sein „ønske om maskulinitet”,[29] sein Verlangen „å forena (…) jordlivet og de ubevisste krefter”,[30] sind nach Thomas Mann das Dilemma der künstlerischen Außenseiterexistenz überhaupt. Dem Wunsch der kleinen Seejungfer, eine Brücke zu schlagen zwischen Ober und Unten, teilzuhaben an der unsterblichen Seele der Menschen (und sich zu diesem Zwecke eine begrenzte Lebensdauer einzuhandeln), entspricht bei Thomas Mann der Wunsch, Gegensätze zu Höherem zu vereinigen, auch wenn es auf nicht ganz geheuerem Wege geschieht. Bei Andersen, wie bei Mann, geht es um persönlich erfahrene Dualitäten, die das Erzählwerk zu überwinden sucht, indem es ihnen zu Grunde geht, ihre Allgemeingültigkeit feststellt und sie dadurch legitimiert. Hier wie da sind Höhen und Tiefen, Zeit und Ewigkeit, Ruhe und Streben, Individuum und Kollektiv, Mann und Frau, Licht und Finsternis Instanzen, die als ausschließlich erfahren werden, aber ohne einander undenkbar sind, weshalb sie sich ständig nach „An- und Ausgleich”[31] sehnen. Allerdings wußten das Andersen und seine kleine Seejungfer nicht so genau wie Thomas Mann, dem Nietzsche und Schopenhauer die metaphysichen Gründe für sein Leiden an der Welt lieferten.
So kann Thomas Buddebrook seinem Schmerz und seiner Sehnsucht ganz Schopenhauerisch Ausdruck geben: „Individualität! … Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau, unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und nicht hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide blickt, der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Haß zu werden.[32] Und so kann Thomas Mann über Friedemann-Aschenbach sagen, dieses Mal mit Nietzsche: „Die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf Würde und ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben. Das Lied vom errungenen, scheinbar gesicherten Frieden und das den treuen Kunstbau lachend hinfegenden Lebens, von Meisterschaft und Überwältigung, vom Kommen des fremden Gottes ….”[33]
Neu war ein solches Schicksal Thomas Mann keinesfalls: Die kleine Seejungfer hatte ihm längst ein Beispiel geliefert von der ruhigen, ereignislosen, beinahe zeitlosen und im höchsten Grade ästhetischen Existenzform, die zunichte gemacht wird durch eine leidenschaftliche Sehnsucht. Diese Jüngste (Späte) sehnt sich unaussprechlich nach dem, was sie nicht kann und nicht hat, und als Fixierpunkt hat ihre Sehnsucht ein unerreichbares Liebesobjekt. Sie sehnt sich tragisch nach Teilhabe an dem, was ihre Existenz nicht einschließt, und gibt einen wesentlichen Teil ihrer Kunst auf, um Beine zu bekommen und damit Eintritt in das menschliche Tun. (Auch Tonio Kröger und Aschenbach „sangen” nicht viel nach ihrer Kontaktnahme mit der Gegenwelt). Schon bei Andersen waren die Stationen die Aufgabe des Zuhauses, des Sündelosseins;[34] die Fahrt zu der Meerhexe, das ist der Abgrund, Venedig oder das ’’schlammige Ägyptenland”; der nackte und zerschundene Eintritt in die Fremde, der auch Josephs ägyptische Laufbahn einleitet; die stumme, unverstandene Existenz unter den Anderen, den Lachenden. Wie alle quester heroes macht sie sich auf den Weg, der dornig und voller Anfechtungen ist, und dessen Ziel — eine höhere Existenzform — paradoxerweise nur auf diesem Wege erreichbar ist: Ihre Schwestern werden daheim ihre mediokren dreihundert Jahre ausleben.
Man könnte hier einwenden, daß Entsprechungen zwischen dem Schicksal der kleinen Seejungfer und dem Lebensweg der Thomas Mannschen Helden darauf zurückzuführen sind, daß beide Dichter an der gleichen Quelle schöpften. Ganz abgesehen von der reichen Tradition der Heilsweg-Literatur gab es zahllose Darstellungen von Meereswesen, die in eine fremde Welt geraten. Verdankt nicht die kleine Seejungfer viele ihrer Züge der Undine Friedrich de la Motte Fou-qués, der sich seinerseits bei Paracelsus über die Vorteile der Paarung von Naturgeistern mit Sterblichen informiert hatte?[35] Könnte also die Ähnlichkeit zwischen den kindlichen Mädchengestalten (und den mädchenhaften Knaben) bei Thomas Mann und Andersens „havfrue“ nicht rein zufälliger Natur sein, bedingt durch gemeinsames Erbe? Schon Goethe, Poe und Wagner hätten Thomas Manns Interesse für Undine wecken können, deren Geschichte ja auch von Giraudoux ’renovirt’ wurde. Goethes ’feuchtes Weib’, Mörickes Schöne Lau und Heines Meereswesen sind Zeugen einer besonders in der Romantik lebendigen Tradition.
Warum war es also Andersens Gestalt Vorbehalten, Thomas Manns lebenslanges Interesse zu erwecken, was zeichnet ihr Schicksal vor dem ihrer Vorgängerinnen aus, so daß sie zur „Schwester in der Trübsal“ der Thomas Mannschen Helden werden konnte? Die Antwort muß lauten, daß Andersens Märchen allein die für Thomas Mann unwiderstehliche Kombination von Romantik, Mythos und Psychologie darstellt.
Auf diesen wichtigen Zusammenhang ist schon hingewiesen worden. In ihren Ausführungen über die Bedeutung des Meeresgrundes in der neueren Dichtung urteilt Anni Carlson, Andersens Geschichte sei ein „echter spätgeborner Mythos“, indem sie „das ’innere Weltall’ der Romantik im Urbild des Meeresgrundes verdichtete“[36], und indem der „Meeresgrund als Seelengrund“ Anschauungsform sei für das „geheime Leben des Unbewußten“[37]. Die Mythologie urteilt dementsprechend, das Meer sei Symbol der „allumfassenden Gesamtheit aller latenten Wirkungsmöglichkeiten: Fons et origo (…), Behälter für alle etwa sich ermöglichenden Arten des Daseins“[38], es bezeichnet somit den paradiesischen Zustand der Ur-Unentschiedenheit, der Vor-Form,
„Als die Welt im tiefsten Grunde
Lag an Gottes ew’ger Brust“.
Aber ebensowenig wie Goethes Gedicht „Wiederfinden“, wo die Schöpfung der Ruhe ein schmerzliches Ende setzt, und wo es dann fernerhin um Trennung und das Verlangen nach Wiedervereinigung geht, ebenso wenig ist es Andersen und Thomas Mann um die harmonische Existenz zu tun: Von Interesse ist immer die Gestalt, die sich von dieser Existenz emanzipiert, denn mit dieser Gestalt kommt Unruhe, kommt Bewegung und damit Zeit – denn Zeit ist Bewegung – kommen auch Leiden und Tod in das ereignis- und zeitlose Dasein[39]. Hier erst beginnt, in jeder Hinsicht, die Geschichte. Thomas Manns Werk umkreist diesen Komplex; im Frühwerk ist es der Einzelne, der sich seinem gesellschaftlichen Ursprung entzieht, schon im Zauberberg wird eine Gruppe von Außenseitern gezeigt, und der Joseph-Roman beweist die Allgemeingültigkeit der Sachlage durch die Emanzipation des Individuums aus dem mythischen Kollektiv: Der Geschichten-losen Ewigkeit Gottes wird der Geschichten-schwere Jaakob, der unruhige Wanderer gegenübergestellt. Und bei Andersen sehen wir in vollkommener Entsprechung die Geburt der menschlichen Form aus der Mischform, die Reise in die Zeit aus dem nach menschlichem Ermessen zeitlos sich ausdehnenden Dasein, wir sehen in dem Verschulden der kleinen Seejungfer, in ihren Schmerzen und in ihrem Tod das Zersplittern einer heilen Welt in eine Vielzahl von Kategorien:
„Und er sprach das Wort: ’Es werde!’
Da erklang ein schmerzlich Ach!
Als das All mit Machtgebärde
In die Wirklichkeiten brach.“
Bevor Thomas Mann sich im Roman zu der kleinen Fischschwänzigen bekannte, hatte er Gelegenheit, sich im Einzelnen über diese Vorgänge und die Bewandtnisse einer solchen Gestalt zu informieren. Als er im Jahre 1941 die Druckfahnen zu Kerényis „Ur-kind Mythologem“ und, etwas später, Jungs Kommentar dazu erhielt[40], fand er sich für die Ausführungen vollkommen aufnahmebereit. Die Verbindung von Mythologie und Psychologie war von den Romantikern, war von Schopenhauer, Nietzsche und Erwin Rohde längst vorbereitet worden, und Thomas Mann konnte Kerényi erfreut mitteilen, daß er (Thomas Mann) bei seinen eigenen „ungelehrten mythologischen Träumereien doch eigentlich viel richtigen Instinkt bewiesen habe“, denn „manche Einzelheit“ sei ihm schon bekannt[41]. Was Thomas Mann bei Kerényi und Jung nachlesen konnte, war die Geschichte des Ur-Kindes in seinem „urweltlichen Zusammenhang von Wasser, Kind und Musik“[42], und daß dieses „zwiegeschlechtige Urwesen im Laufe der Kulturentwicklung zum Symbol der Einheit der Persönlichkeit, des Selbstes (wird), in welchem der Konflikt der Gegensätze zur Ruhe kommt“[43]. Thomas Mann las, und unterstrich sich, daß des göttliche Kind meistens „ein verlassenes Findelkind“ sei[44], ein Motiv, welches er später im Erwählten stark hervorhebt, das aber schon von Andersen mit „viel richtigem Instinkt“ verwendet wird, denn in seinem Märchen nennt der Prinz die Seejungfer „sein kleines Findelkind“ (289). Kerényi berichtet weiterhin, das Urkind löse sich aus dem zeitlosen Zustand der Vor-Form, aus dem noch undifferenzierten Dasein, um angesichts außerordentlicher Gefahren dem Licht, der Erkenntnis entgegenzustreben, denn seine Haupttat ist, dem Kommentar Jungs zufolge, „der erhoffte und erwartete Sieg des Bewußtseins über das Unbewußte“[45].
Gewiß, Thomas Mann kannte die Vorgänge in „mancher Einzelheit“. Andersens Kleine Seejungfer beschreibt in überraschender Entsprechung die Geburt des Menschen aus seinem paradiesischen Ursprung. Die Mutterlosigkeit und die androgynen Züge des Urkindes[46] äußern sich in ihrer Verwaistheit und ihrer ursprünglichen Mischgestalt, und Anklänge an die Zwitterhaftigkeit kommen dann wieder in der Männertracht zum Ausdruck, die der Prinz anfertigen läßt (289). Ihre Verwandlung in die menschliche Form ist unbedingt als Einschränkung »aller latenten Möglichkeiten« zu verstehen, als Absage also auch an die Zwitterhaftigkeit. In dem Verlust der Zunge der kleinen Seejungfer dürfte Thomas Mann den wichtigsten Hinweis auf diese Zusammenhänge gesehen haben. Daß die Zunge den Ägyptern „als Darstellung der feuchten Tiefe« galt, hatte er bei Bachofen erfahren.[47] In den intensiv gelesenen Ausführungen über Natursymbole hob Thomas Mann das Wort Zunge durch Unterstreichung hervor, desgleichen den Satz, die Zunge sei „Träger beider Geschlechtspotenzen“. Als Randvermerk erscheint hier das Wort „Schweigen“[48]. Hinweise bei Thomas Mann auf eine Beschädigung der Zunge, auf unverständliches Lallen und auf Schweigen dienen somit der Identifikation einer Gestalt: Das Schweigen ist Charakteristik des schmerzlich in sich verschlossenen Ich, dem zwar in seiner Isolation höhere Erkenntnisse möglich werden, das jedoch, eingedenk seiner verlorenen paradiesischen Heimat, sein ganzes Streben auf Rückkehr in diese Heimat gerichtet hat, das heißt aber auf Selbstzerstörung.[49]
Der suizid-artige Tod der kleinen Seejungfer im Schaum des Meeres entspricht als Ende und Neuanfang ebenfalls streng mythologischem Muster, denn „das Hinabtauchen in die Gewässer (ist) nicht gleichbedeutend mit einer endgültigen Vernichtung, sondern nur mit einem kurzfristigen Zurück- und Anheimgegebenwerden an das noch nicht Unterschiedene, dem dann eine neue Schöpfung folgt, ein neues Leben oder ein neuer Mensch“[50]. Neufang und Niedergang: Es ist die Wiederkehr des immer Gleichen, die Thomas Mann fasziniert. Ich möchte annehmen, daß die Erkenntnis des Auf und Ab für Thomas Mann wichtiger ist als alle Faszination durch den Verfall …“[51]. Hans Wys-lings Urteil erhält die sprechendste Bestätigung durch Andersens Märchengestalt, der Thomas Mann so große Treue bewies. Selbst schon Neuformung mythischen Geschehens, wurde sie bei Thomas Mann zum Prototyp der Ausgesetzten und heim-Gesuchten in seinem Werk. Die schon im Frühwerk häufigen Hinweise auf den verloren gegangenen Zustand der Spannungslosigkeit mit Hilfe einer stets vieldeutigen und an die kleine Seejungfer erinnernden Gestalt zeugen dafür, daß er zeitig um ihre mythische Dimension wußte. Jedoch erst nach der Kenntnisnahme von Kerényis Schriften und den dazugehörigen psychologischen Kommentaren konnte er ihr im Doktor Faustus offen huldigen.
Als Sinnbild des ewigen Werdens und Vergehens, als Mahnung an den göttlichen Ursprung und die hohe Aufgabe des Geistes, als „Symbol der konstruktiven Vereinigung von Gegensätzen“[52] ist die kleine Seejungfer „Schwester in der Trübsal“ nicht nur für ihren Autor und Adrian Leverkühn, sondern für die einsam Strebenden überhaupt. Thomas Mann wußte es und ließ sie zum Fixierpunkt werden der sehnsüchtigen Liebe seiner Helden nach Durchbrechung des principium individuationis. Meistens erscheint sie mit Beinen – auch wenn diese zuweilen zu nicht viel mehr als einem trägen, tierhaften Gleiten befähigen-[53], der Lieblingsheld Adrian Leverkühn aber empfing sie auch mit Schuppenschwanz. Als später Faust genoß er den „Vorteil der späten Tage“[54] und wußte, wie die Geschichte endet: Nach einer weiteren Metamorphose schwebt die kleine Seejungfer unter „Hunderten von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen“ (293) und, ihre verklärten Augen gegen Gottes Sonne“ erhebend (294), entzieht sie sich der irdischen Perspektive.
Soweit kein anderer Erscheinungsort vermerkt wird, werden Thomas Manns Werke nach der Stockholmer Gesamtausgabe zitiert.
H.C. Andersen wird zitiert nach: H.C. Andersen, Sämmtliche Märchen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe, Leipzig, 1872.
Die mit * bezeichneten Werke befinden sich in Thomas Manns Nachlaßbibliothek im Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich.